Warum sich mal wieder keine Pauschalaussagen treffen lassen, wieso Marketiers heute mehr Sorgfalt und Kompetenz denn je brauchen und weshalb Emotion der Schlüssel zur Zielgruppe ist, erklärt einer der einflussreichsten Marketingprofessoren Deutschlands: Heribert Meffert.
Fragmentierte Zielgruppen, hybride Konsumenten, illoyale Kunden scheren sich keinen Deut darum, ob sie sich alters-, geschlechts- oder bildungsgerecht verhalten. Soziodemografie-Kenntnisse sind kein sicherer Boden mehr für die Segmentierung. Jahrzehntelange Gewissheiten der Kundenansprache sind außer Kraft gesetzt. Herr Professor Meffert, ist diese Ausgangsthese überhaupt zutreffend? Haben sich die Zielgruppen in den vergangenen 20 Jahren tatsächlich gewandelt und müssen somit hergebrachte Regeln der Zielgruppensegmentierung über Bord geworfen werden?
Heribert Meffert: Das ist im Grundsatz richtig: Die Zielgruppenwelt ist komplexer und instabiler geworden, vor allem in Hinsicht auf die Maßnahmen des Marketing. Dennoch sollte man nicht pauschal die alten Regeln der Zielgruppensegmentierung über Bord werfen. Ich glaube, man muss es bedingt sehen. Zum Beispiel finden sich hybride Zielgruppen – also diejenigen, die etwa billige Lebensmittel, aber teure Schuhe kaufen – nur in bestimmten Warengruppen. Dass die Loyalität sinkt, daran ist das Marketing selber Schuld, weil es immer neue Erlebnisbühnen schafft. Aber man muss Folgendes unterscheiden: Für strategische langfristige Zielgruppenanalysen sind soziodemografische Variablen nach wie vor wichtige Eckpunkte. Nehmen Sie den demografischen Wandel: Unternehmen sollten darüber nachdenken, welche Angebote sie langfristig älteren Menschen anbieten wollen. Oder was es für sie bedeuten könnte, wenn wir demnächst 30 Prozent weniger Führerscheinerwerber haben.
Die Zahl der Kommunikationskanäle hat seit den 80er Jahren beträchtlich zugenommen. Welche Konsequenzen hat die Kanalvielfalt für die Kundenansprache?
Heribert Meffert: Das ist ein großes Thema! Wir haben Multichannel und Multisegmente. Damit ist es operativ schwieriger geworden, Zielgruppen zu erreichen. Zugleich bietet die Vielfalt der Kanäle wachsende Chancen. Früher hatten wir eine One-to-many- Kommunikation. Weil über das Internet die Transaktionskosten sehr viel geringer geworden sind, ist heute dank der Profildaten eine One-to-one-Segmentierung möglich, wie sie zum Beispiel Amazon betreibt. Bei den Social Media wie Facebook haben wir eine Many-to-many- Kommunikation – und das ist chaotisch. Da versagt die klassische Marktsegmentierung. Die Digitalisierung hat neben der neuen Many-to-many-Kommunikation auch zu mehr Transparenz und einer starken Vernetzung der Konsumenten geführt.
„Wenn die Segmentierung nicht mehr funktioniert, wie wir das wünschen, dann ist eine emotionale Botschaftsverankerung eine ganz wichtige Sache.“
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Heribert Meffert
Welchen Einfluss hat die sogenannte Konsumentendemokratie auf die Zielgruppenansprache?
Heribert Meffert: Die Steuerbarkeit und Einflussnahme des Marketing hat erheblich abgenommen. Unternehmen müssen sehr viel stärker auf die Einflüsse aus Social Media achten. Das geht so weit, dass es schon heißt, die Konsumenten seien die Eigentümer der Marke. Marken müssen mit den Konsumenten in Kontakt treten, damit sie sich mit ihnen auseinandersetzen können. Das ist ein völlig neues Denken. Marketiers können den Konsumenten nicht vorschreiben, was sie von der Marke denken sollen. Die Zielgruppenansprache wird schwieriger, verlangt ein höheres Einfühlungsvermögen und ein zielgruppenorientiertes Reaktionsvermögen. Insgesamt wird das Marketing dialogorientierter.
Ob Targeting oder Tracking, mikrogeografische Segmentierung oder Tiefeninterviews: Noch niemals gab es so viele Informationen über Konsumenten wie heute. Schlägt sich all dieses Wissen Ihrer Einschätzung nach in einer zielgruppenorientierteren Kundenansprache nieder?
Heribert Meffert: Die Frage könnte auch lauten: Bedeutet „Big Data“ zugleich „Big Impact“? Kann man also mit mehr Daten mehr machen? Die große Datenvielfalt führt zum Information Overload. Früher gab es ein Basismedium und ein, zwei flankierende Medien. Heute haben wir eine große Vielfalt. Also ist es eine strategische Herausforderung herauszufinden, welches die richtigen Variablen sind und diese auf ihre Relevanz hin zu verdichten. Das ist eine höchst anspruchsvolle Methode, die Sorgfalt, Mühe und Kompetenz erfordert. Früher haben wir in der Wissenschaft Hypothesen aufgestellt und anschließend versucht, sie zu belegen. Heute werden über Datamining Schlüsseldaten extrapoliert. Das ist ein weiterführender Methodenaspekt.
Wie lässt sich angesichts der geballten Datenmenge und ausgefeilter Marktforschungsmethoden die hohe Zahl der Produktflops erklären?
Heribert Meffert: Die Floprate war früher nicht sehr viel niedriger. Auch Customer Integration – also die Einbeziehung der Kunden in die Produktentwicklung – hat nicht dazu geführt, dass die Floprate größer oder kleiner geworden ist. Die Gründe dafür liegen nicht nur in der Marktforschung, sondern vielleicht auch in der höheren Produktvielfalt, in Wettbewerber-Produkten und generell in der schnelleren Reaktionsgeschwindigkeit und Dynamik der Märkte. Weltweit kommen jedes Jahr 60.000 neue Marken auf den Markt. Und zeitgleich sinken Response-Raten, während die Werbereaktanz steigt.
Was müssen Marketingentscheider tun, damit ihre Werbebotschaften im wahrsten Sinne des Wortes gut bei der Zielgruppe ankommen?
Heribert Meffert: Wenn die Segmentierung nicht mehr funktioniert, wie wir das wünschen, dann ist eine emotionale Botschaftsverankerung eine ganz wichtige Sache. Nehmen Sie die Zeitschrift Landlust, die eine phänomenale Entwicklung genommen hat. Landlust wirft einen Identitätsanker. Es kommt mehr und mehr darauf an, einen identitätsstiftenden und emotionalen Anspruch zu transportieren. Auch Apple ist ein gutes Beispiel: Die Produkte sind die Botschaft. Das Produkt muss überzeugen und die Werbung muss den Leistungsbeweis mit einer emotionalen Botschaft verbinden können. Wenn die Botschaft Identität stiftet, dann entsteht eine Bindung. Dann sagen die Leute: Das ist meine Fluggesellschaft, meine Zeitung, mein Auto. Das Fernsehen ist immer noch Schlüssel- und Basismedium, aber was im Nachgang passiert, ist wesentlich vielfältiger als früher. Es geht um die Orchestrierung des Ganzen und dafür müssen im Unternehmen viele Spezialisten gemeinsam an einem Ziel arbeiten. Deshalb sind die Unternehmenskultur und das Wir-Gefühl so wichtig. Alle Mitarbeiter müssen an einem Strang ziehen. Deshalb ist es eine große Aufgabe, die Mitarbeiter auf eine identitätsstiftende Botschaft einzuschwören.
von Vera Hermes
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Heribert Meffert Die Zeitung Die Welt hat mal über diesen Mann geschrieben: „Heribert Meffert war es, der als junger, 32-jähriger Professor den Begriff Marketing in deutsche Hörsäle trug. Übervater, Guru, Marketing-Papst. Wenn über Professor Heribert Meffert geredet oder geschrieben wird, haben Superlative Hochkonjunktur.“ Und das Fachblatt Harvard Business Manager postulierte im Juli dieses Jahres: „Dank Heribert Meffert gilt die Uni Münster heute als Eliteschmiede für Marketiers“. Der hoch geschätzte und viel geehrte Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Heribert Meffert befasste sich als einer der ersten Professoren in Deutschland mit Marketing. Er befähigte im Laufe seiner Professorenschaft gleich mehrere Generationen Marketingwissenschaftler und -entscheider für ihren Beruf. Ende der 60er Jahre gründete Professor Meffert das erste Institut für Marketing in Deutschland an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Obwohl der heute 75-Jährige im Jahr 2002 an der Universität Münster emeritiert wurde, ist er nach wie vor dem Marketing verbunden. Seine Bücher sind an den Unis Pflichtlektüre, seine Ratschläge werden in Unternehmen gern gehört. Er engagiert sich im Bereich Social Marketing für ein Netzwerk altersbedingter Sehbeeinträchtigter. Und er ist zu all dem auch noch – wenn Sie mir diese persönliche Bemerkung gestatten – ein sehr freundlicher Mensch. www.marketingcenter.de
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