Ausgesetzt, aber nicht ausgeliefert

2020-11-27T17:19:42+01:0014. Februar 2017|Tags: , , , |

Dieser Mann ist ein großer Meister seines Fachs: Professor Dr. Friedemann Schulz von Thun, Psychologe und Kommunikationswissenschaftler, lehrte jahrzehntelang an der Uni Hamburg und beschäftigt sich – mal ganz verkürzt gesagt – zeitlebens damit, wie wir Menschen miteinander reden und warum wir so reden, wie wir reden. Sein Kommunikationsquadrat und seine Erkenntnisse über das Innere Team sind heute Unterrichtsstoff an den Schulen. Wer also wäre besser geeignet, darüber Auskunft zu geben, was KI gegebenenfalls mit unserer Konfliktfähigkeit so anstellt?

 

Schon heute ist es ja so, dass jeder, der googelt oder sich via Social Networks informiert, solche Informationen zugespielt bekommt, die zu seinen persönlichen, kulturellen und politischen Präferenzen passen. Es entsteht der derzeit viel besprochene Echoraum. Ohne Widerspruch, ohne Gegenargumente, immer schön dem eigenen Weltbild entsprechend. Auch die selbstlernenden digitalen Assistenten wie Amazon Echo oder Google Home, die uns wohl schon bald persönlich und individuell versorgen werden, werden uns vermutlich niemals widersprechen.

 

LIEBER PROFESSOR SCHULZ VON THUN, KÖNNTE SICH DIESE ENTWICKLUNG IHRER EINSCHÄTZUNG NACH AUF UNSERE KONFLIKTFÄHIGKEIT AUSWIRKEN?

 

FRIEDEMANN SCHULZ VON THUN: Zunächst mal muss ich sagen: Mein Leben spielt sich nicht im Netz ab. Ist es so, wie Sie sagen? Dass die raffiniert-schlauen Algorithmen das widerspiegeln, was mir entspricht und was ich sehen will? Wenn ich DIE ZEIT lese, ist das allerdings auch so, denn damit kriege ich bestimmte Weltsichten eher präsentiert als andere. Mein persönlicher Abschirmdienst funktioniert also ohnehin in dieser Weise: Was mir in den Kram passt, dafür habe ich Argusaugen.Was mir nicht in den Kram passt, dafür bin ich blind und schwerhörig. Denn ich will in die kognitive Komfortzone – dorthin, wo es übersichtlich ist und wo Recht und Ordnung herrschen. Und um diese Komfortzone baue ich eine abwehrstarke Mauer, ich verteidige sie mit Zähnen und Klauen. Tendenziell war das schon immer so; mit dem Internet hat sich dieser Filter- und Abwehrmechanismus womöglich in dieselbe Richtung verschärft.

 

UND WIE BEEINFLUSST DIESE ENTWICKLUNG UNSERE KONFLIKTFÄHIGKEIT?

 

FRIEDEMANN SCHULZ VON THUN: Wahrscheinlich gibt es auch hier eine Verschärfung in dieselbe Richtung. Es wird eher nicht so sein, dass die Menschen heute einer anderen Meinung begegnen mit der Haltung: „Oh, wie interessant, so habe ich das noch nicht gesehen” oder „Die Wahrheit beginnt zu zweit” oder „Eine andere Position, siehe da!”, sondern es wird sich wohl eher die Entwicklung verstärken, dass das andere als skandalös, abwegig und anstößig empfunden wird. Ganz nach dem Motto der archaischen Konfliktaustragung: Ich bin das Ideal und Du bist der Skandal!

 

IST ES BEÄNGSTIGEND, WENN SICH DIESE HALTUNG NOCH VERSCHÄRFT?

 

FRIEDEMANN SCHULZ VON THUN: Indem wir uns das bewusst machen, können wir gegensteuern. Wir sind den Algorithmen zwar ausgesetzt, aber nicht ausgeliefert.

 

Wenn Sie sich mal ein großes Vergnügen machen möchten, schauen Sie sich die Abschiedsvorlesung von Professor Schulz von Thun im Jahr 2009 an https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/10197

 

Mehr Informationen finden Sie außerdem unter www.schulz-von-thun.de

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