Das Ende der Zielgruppen

2020-11-27T17:53:14+01:0020. Februar 2013|Tags: , , , , , |

 

Die guten alten Zielgruppen haben ausgedient. Sie bieten keine brauchbaren Ziele mehr. Die Konsumenten von heute sind vielmehr schizophrene, multiple Persönlichkeiten, die sich gegenüber Produkten und Marken immer weniger konstant und loyal verhalten. Das Ausleben möglichst vieler Verfassungen, Gestimmtheiten prägt ihr Konsumverhalten.

 

Das Denken in den heute noch üblichen Zielgruppenkategorien blockiert daher die Entwicklung von effizienten Marketing- und Kommunikationsstrategien. Zwar ist es noch selbstverständlich, dass jedes Produkt, jede Dienstleistung und jedes Medium eine oder mehrere Zielgruppen hat und haben muss. Die Fixierung auf Zielgruppen im Marketing ist jedoch Ausdruck eines vergangenen Zeitgeistes. Sie stammt aus einer Zeit, in der Geschlecht, Alter, Familienstand und Einkommen gleichbedeutend waren mit spezifischen Kauf- und Konsumgewohnheiten. Männer eines bestimmten Alters kauften und konsumierten anders als Frauen, Ledige anders als Familien und Wohlhabende anders als Menschen mit geringem Einkommen.

 

Die Erfahrung der Marktforschung in den letzten Jahren zeigt, dass sich die Konsumenten in ihrem Verhalten verändert haben und die Definition von Zielgruppen durch soziodemografische Merkmale in Bezug auf die Entwicklung wirkungsvoller Marketingstrategien meist kaum weiterhilft: Wohlhabende kaufen heute genauso bei Aldi ein wie weniger Wohlhabende, ältere Menschen sind häufig genauso erpicht auf Trendprodukte wie Jüngere, und Frauen kaufen Männerprodukte. Die Forschung hat durch die zusätzliche Einbeziehung von psychologischen Merkmalen in das soziodemografische Konzept auf diese Entwicklung reagiert und versucht auf diesem Wege, das tradierte Zielgruppenmodell zu retten. Ermittelt werden auf diese Weise Zielgruppenprofile mit mehr oder weniger starkem psychologischem Hintergrund wie etwa Smart-Shopper, Milieus oder auch Stilgruppen.

 

Aber auch diese Ansätze stoßen heute an ihre Grenzen, wenn sie Käufer- und Nichtkäuferkreise für ganz spezifische Produkte und Medien eingrenzen wollen: Die ermittelten Profile differenzieren häufig nicht gut oder sind zu allgemein. So verteilen sich Käufer und Nicht-Käufer oft gleichmäßig auf verschiedene Milieu- oder Stilgruppen – oder die gesamte Bevölkerung müsste zum Beispiel zu den Smart-Shoppern gerechnet werden, wenn 90 Prozent der Konsumenten heute regelmäßig im Lebensmittel-Discount einkaufen. Warum ist es aber so schwierig, Zielgruppenprofile zu ermitteln, die Käufer- und Nutzerkreise gut beschreiben und charakterisieren?

 

Aktuelle rheingold-Studien zeigen den Hintergrund für diese Schwierigkeiten: Es gibt immer weniger konstante Verhaltensmuster, die Gruppen oder Personen komplett prägen! Konsumenten sind heute schizophrene, multiple Persönlichkeiten, die je nach Kontext verschiedene Verhaltensmuster entwickeln. Männer übernehmen dabei Frauenaufgaben und Frauen verhalten sich manchmal wie Männer, Familien werden gesucht und zugleich wieder infrage gestellt und aufgelöst, alte Menschen wollen unbedingt jung sein und junge etabliert und berühmt wie früher nur ältere Herrschaften. Konsumenten wollen alles zugleich sein: jung und alt, familiär und ungebunden, reich/berühmt und einfach/normal. Sie wollen zumindest optional nichts auslassen und sich jederzeit verändern und verwandeln können. Es ist daher auch vergeblich und unsinnig, nach gruppen- und personengebundenen Verhaltensmustern zu suchen, wie sie die heute noch gültigen Zielgruppenmodelle vorsehen. Diese Tatsache wird vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen, von rheingold betriebenen Jugendforschung deutlich: Jugendliche passen sich den jeweiligen Umfeldern so konsequent an, dass konstante individuelle Profile kaum mehr auszumachen sind.

 

Wir alle verhalten uns anders, wenn wir am Schreibtisch sitzen, beim Metzger sind oder vor dem Traualtar stehen.

 

Dieser Anpassungs- und Entindividualisierungsprozess prägt heute die Alltagskultur der Jugendlichen: Wenn Konstanten im Verhalten von Jugendlichen auszumachen sind, sind sie nicht personal und individuell, sondern apersonal und kontextgebunden. Entscheidend für ihr Verhalten und die dabei verwendeten Produkte und Medien ist der Rahmen, in dem sie sich aufhalten: Schule, Abhängen, Seventies- Partys, Abschlussbälle, Samstagseinkauf, Sportverein. Diese apersonalen Grundmuster zeigen jedoch nicht nur Jugendliche in ihrem Alltag: Wir alle verhalten uns anders, wenn wir am Schreibtisch sitzen, beim Metzger sind oder vor dem Traualtar stehen.

 

Diese Kontexte geben unsere psychologischen Verfassungen und Gestimmtheiten vor. Sie bestimmen unser Verhalten und Tun. Produkte und Medien sind in derartige Verfassungen eingebunden und helfen dabei, sie auszugestalten. Es ist daher für Marketing und Kommunikation erheblich zielführender und einfacher, sich an derartigen Verfassungen zu orientieren als nach sich mehr und mehr auflösenden Zielgruppen zu suchen. Im wirklich erfolgreichen Marketing geht es eigentlich nie um die Soziodemografie von Zielgruppen, sondern immer um Angebote für psychologische Verfassungen und die damit verbundenen Lebensgefühle und Bilder. Verfassungsmarketing ist heute daher ein Königsweg zum modernen Konsumenten!

 

Verfassungsmarketing® setzt an der Stimmung, dem Zustand oder den Bedingungen an, in welche sich Konsumenten und Geschäftskunden begeben, die mit bestimmten Produkten oder Dienstleistungen in Kontakt kommen. Diese Stimmungen, Bedingungen, Zustände werden mit dem Begriff Verfassung bezeichnet. Der Markt wird dabei wie ein psychisches Kräftefeld betrachtet. Betritt ein Mensch (Kunde, Verbraucher) dieses Feld, so unterliegt er diesen Bedingungen und Kräften. Mit diesem Wissen kann ich eingreifen, steuern, verändern – das ist Verfassungsmarketing®.

 

„Wohlhabende kaufen heute genauso bei Aldi ein wie weniger Wohlhabende, ältere Menschen sind häufig genauso erpicht auf Trendprodukt wie Jüngere, und Frauen kaufen Männerprodukte.“

 

Das Modell des Verfassungsmarketings® betrachtet das Konsumverhalten durch eine neue, andere Brille als traditionelle Zielgruppenmodelle und kommt dabei zu einer Reihe spannender Erkenntnisse: Dass ein und derselbe Konsument zum Beispiel eine Vielfalt unterschiedlicher Schokoladenprodukte parallel verwendet, erscheint dann nicht mehr chaotisch oder unsinnig. Es zeigt sich meist, dass die verschiedenen Produkte unterschiedliche Verfassungen und die damit verbundenen Verwendungsmotive bedienen. Psychologisch befriedigt die Milka-Tafel dabei ganz andere Verfassungen als etwa die Tafel Ritter-Sport, die wiederum in vielerlei Hinsicht mehr mit Schokoriegeln als mit klassischen Tafeln konkurriert. Beide Marken sind demnach in viel geringerem Umfang direkte Wettbewerber, als es eine reine an Produktbereichen und deren Zielgruppen orientierte Marktbetrachtung annimmt.

 

Ein anderes Beispiel: Bei Mineralwasser bedienen Sorten ohne Kohlensäure meist ganz andere Verfassungen als die mit Kohlensäure. Mineralwässer ohne Kohlensäure sollen das Trinken bei möglichst vielen Gelegenheiten unterstützen und Durst erst gar nicht entstehen lassen. Die sie prägende Verwendungsverfassung ist durch dauerndes Trinken und eine Art Dauerbefeuchtung gekennzeichnet. Bei kohlensäurehaltigen Varianten steht dagegen mehr das Trinkerlebnis und der Spaß am Durstlöschen im Fokus. Auch wenn die Parallelverwendung hier nicht so ausgeprägt ist wie bei Schokoprodukten, gibt es viele Haushalte/Konsumenten, die beide Sorten verwenden und beide Verfassungen ausleben wollen.

 

Verfassungsmarketing® rückt nicht die Person oder Zielgruppe, sondern das Verwendungserleben und die konkrete Kauf- und Anschaffungssituation stark in den Fokus. Dadurch öffnet das Konzept stärker auch den Blick für die tatsächlichen Wettbewerber, die nicht selten außerhalb der vermeintlichen Verwenderzielgruppen eines spezifischen Produktbereichs liegen. Da konkurriert der Mars-Riegel dann plötzlich mit der Mini-Salami von Bifi oder dem Käsebrötchen vom Bäcker. Oder der Autokauf steht im Wettbewerb mit Urlaubsplanungen oder dem Hausumbau. Ist das Verfassungskonzept nicht unsinnig, wenn es um größere und langfristiger geplante Anschaffungen geht? Denn mit großen Investitionen wie Autos, Häusern, Kapital-Lebensversicherungen sollen doch nicht nur bestimmte Verfassungen ausgelebt werden können.

 

Schaut man genau hin, hat das Diktat der Verfassungen jedoch auch bei diesen Produkten Einzug erhalten: Autos werden heute als Multi-Purpose- oder Multi- Utility-Vehicles konstruiert, damit sie die unterschiedlichsten Situationen ideal ausgestalten helfen. Die Autofahrer von heute wollen möglichst viele Verfassungen mit einem Auto ausleben können: Mit einem geländegängigen Fahrzeug, das familientauglich ist und ein Fahrverhalten wie ein Sportwagen hat, auf der Autobahn 250 km/h fahren zu können – ist heute erstrebenswert. Auch Versicherungsprodukte müssen am besten so flexibel wie möglich gestaltet werden, um für alle erdenklichen Wechselfälle des Lebens abzusichern und dabei noch Änderungen im Tarif, der Beitragsleistungen und im versicherten Risiko zu ermöglichen. Erst dann sind Versicherungsnehmer zufrieden. Ebenso bei Hausbau und Wohnungseinrichtung: Zunehmend an Bedeutung gewinnen Wünsche nach schnellem Umbau und rascher Veränderung, die bereits bei den Planungen berücksichtigt werden. Mobile Wände, bewegliche Einheiten und Möbel stehen hoch im Kurs. Die Immobilien sollen die Installation von unterschiedlichsten Wohnverfassungen nicht behindern. Verfassungen passen sich in den Tagesablauf ein. Alkoholhaltige Getränke unterstützen eher abendliche Verfassungen, Cerealien eher morgendliche Aufstehszenarien etc.

 

Dies gilt auch für die Angebote von Medien: So haben Untersuchungen für den Fernsehsender Viva gezeigt, mit welchen Sendeformaten welche Tageszeiten am besten angesprochen werden. Die Möglichkeiten des Verfassungskonzepts sind aus heutiger Perspektive noch nicht ausgeschöpft und auch seine Grenzen noch nicht ausgelotet. Es ist ein Modell mit reizvollen Perspektiven für die ganz konkrete Marketingpraxis.

von Jens Lönneker

 

Jens Lönneker ist Geschäftsführer von rheingold salon in Köln, einer neuen Unit des rheingold Instituts für qualitative Markt- und Medienanalysen. Der Diplom-Psychologe befasst sich mit tiefenpsychologischen Analysen – von der Grundlagenforschung und Produktentwicklung bis hin zur Überprüfung von Werbemaßnahmen und strategischen Empfehlungen. Jens Lönneker ist ein gefragter Redner, hat Lehraufträge an der Universität der Künste in Berlin und der Business School Potsdam (BSP) inne und ist Gastreferent an der Universität St. Gallen. www.rheingold-online.de

Diesen Beitrag teilen

vernetzt-magazin, ausgabe 7, zielgruppen, das ende der zielgruppen, jens loennecke, rheingold

Alle Magazine

Nach oben