Das Game Changer-Jahr für unser Arbeitsleben

2021-02-17T16:11:06+01:0019. Februar 2021|Tags: , , , , , |
vernetzt-magazin, Das Game Changer Jahr, Iris Gordelik

Mit den Veränderungen des Arbeitsmarktes, etwa durch den demografischen Wandel, den War for Talents, die Globalisierung und das neue individuelle Selbstverständnis von Arbeit – denken Sie an die Generationen X, Y, Z, die Digitalnomaden oder das Thema Gender Mainstreaming – beschäftigen wir uns seit Jahren und uns war klar: Da wird sich einiges ändern. Doch nun kommt die Veränderung schneller als erwartet: Die weltweite Pandemie 2020 wird als Accelerator, als Turbo-Beschleuniger in die Geschichte eingehen. 2020 hat dafür gesorgt, dass die Karten in unserer Arbeitswelt neu gemischt werden.

DIE NEUE SICHTBARKEIT DES PRIVATEN

Für manch eine Führungskraft war es ein Schock: Plötzlich gucken meine Mitarbeiter in mein privates Büro, die Küche oder das Wohnzimmer. Zum Lockdown gab es keine Möglichkeit, dem auszuweichen. Für Siezer, Büroabschließer und Elfenbeinturmsitzer, denen Abstand zu ihren Untergebenen als notwendiges Mittel der eigenen Autorität dient, ist das ein schlimmer Zustand.

Gleiches gilt für unsere Geschäftskontakte: Als ich in einem Zoom-Meeting von einem Kunden mit den Worten begrüßt wurde: „Schöne Ikea-Kommode haben Sie da“, wurde mir noch einmal deutlich, was wir alle von uns preisgeben. Die meisten von uns sind die Trennung von Beruf und Privat einfach gewohnt. Das spielen wir gut, ohne darüber intensiver nachzudenken. Wir haben Klamotten fürs Büro und welche für Privat. Ein repräsentatives Büro für Kunden und eines nur für uns. 2020 hatten wir noch nicht einmal die Chance, darüber nachzudenken. Das war, wie ins Zimmer zu kommen, ohne anzuklopfen. Inklusive bösen oder lustigen Überraschungen. Je nachdem, wie man es sehen möchte.

Die Grenze zwischen Beruf und Privat ist 2020 ausgesetzt worden. Kinder sind dabei, wenn Papa oder Mama mit dem Headhunter telefonieren. Mein Kunde erzählt mir, er habe dieselbe Ikea-Kommode. Meine Duz-Quote ist rasant gestiegen. Das private Ich ist kein geschäftliches Geheimnis mehr. Die Frage ist: Ziehen wir die Grenze wieder hoch, wenn die Pandemie ganz vorbei ist? Oder war das vielmehr das Überwinden einer der letzten inneren Hürden für die nächste Lebensform, das Work-Life-Blending – die völlige Verschmelzung von Privat- und Arbeitsleben?

WORK-LIFE-BALANCE WAR GESTERN. WORK-LIFE-BLENDING IST DA

Machen Sie sich doch bitte einmal die Mühe und notieren die Uhrzeit, wann sie beruflich chatten, posten oder Posts lesen, Mails bekommen, WhatsApp-Nachrichten checken und so weiter. Vermutlich geht es Ihnen wie mir: Von der vielbeschworenen Kernarbeitszeit acht bis siebzehn Uhr haben wir uns spätestens 2020 verabschiedet.

Anfang Januar hatte ich ein Skype-Meeting mit Geschäftspartnern, bei dem sich herausstellte, dass wir alle aus dem Urlaub heraus teilnahmen. Niemand hatte auch nur im Entferntesten darüber nachgedacht, den Termin wegen Urlaubs zu verschieben.

Dabei war Work-Life-Balance, die Trennung von Beruf und Privatleben, Personalern und Gewerkschaftlern in den letzten Jahren der heilige Gral zum Schutz der Arbeitnehmer. Dahinter verbirgt sich die Vermutung, Arbeit als mühsame Pflichterfüllung zu sehen und vom erholsamen Privatsein zu trennen.

Doch 2020 zeigte sich, dass eine erstaunlich große Zahl an Menschen ziemlich zufrieden mit der Nichttrennung durch Homeoffice war: 94 Prozent der Österreicher befürworten das Konzept Homeoffice und wollen auch nach der Corona-Krise daran festhalten (Quelle OTS Wirtschaft, 12/2020). In Deutschland waren es 70 Prozent im Juni 2020. (Quelle: bidt). Tendenz steigend.

Probieren geht über Studieren. So zeigte sich in der Praxis: Höhere Flexibilität, mehr Autonomie und höhere Produktivität macht die Beteiligten eher happy als groggy.

CORONA ALS JOB-CREATOR

Die Corona-bedingte Homeoffice-Zeit war auch eine Zeit, über das eigene Leben, den Job und den Sinn der Arbeit nachzudenken. Weder Chef noch Kollege kontrolliert, was auf meinem Bildschirm zu sehen ist. So lassen sich nebenbei prima YouTube-Videos ansehen, Aktienkurse beobachten oder der Podcast zum Hobby hören. Da ist vielleicht der Teamleiter im Call Center auf die Idee gekommen, endlich seinen Angler-Podcast ins Leben zu rufen. Während der Corona-Pandemie stiegen die Podcast Angebote rasant. „Wir hatten innerhalb einer Woche einen Anstieg von Neuanmeldungen um 98 Prozent“, so der Podigee-CEO Mateusz Sójka. (Quelle: investorenszene.de).

Oder Rebekka Gross, die im September 2020 zusammen mit ihrer Mutter den Pakiaka-Laden geöffnet hat. In dem kleinen Ort Tafers in der Schweiz können Kunden Reis, Linsen, Nüsse oder auch Seife und Putzmittel kaufen. Unverpackt. Kundinnen und Kunden bringen ihre eigenen Behälter mit. Die Idee dazu habe sie schon lange gehabt. Während des Lockdowns hätten sie und ihre Mutter viel Zeit zum Nachdenken gehabt. „Wir konnten in dieser Zeit unsere Vision schärfen.“ Ihren Job als Kinderbetreuerin hat sie an den Nagel gehängt und in der Corona-Krise den neuen Laden geöffnet.

Im Dezember 2020 verzeichnet das Portal startups.ch eine Rekordanzahl an Gründungen. „Trotz oder gerade wegen der Pandemie“, so der CEO Michele Blasucci.

Die Zahl der Neugründungen in den Branchen E-Commerce und Lebensmittel hat sich zwischen Mitte März und Ende Mai 2020 verdoppelt (Quelle: Startupdetector). Erheblich zugenommen hat auch die Zahl der Neugründungen im Bildungssektor. Ein Beispiel ist das Bildungs-Start-up „Kita-to-Go“. Als die Gründerin Marie-Luisa Puttich im März zu Hause bleiben musste, kam ihr die Idee für eine Plattform für Eltern von Drei- bis Sechsjährigen. Regelmäßig liefert die Plattform Bastel-, Spiel- und Lernprogramme. Nach einer Woche hatte sie 5.000 Nutzer und im November 2020 waren es 50.000, obwohl die Kitas wieder geöffnet hatten.

Coronakrisen-Gründer nennt man sie und wer weiß, ob es diese Gründungen ohne Krise je gegeben hätte.

AUCH FÜHRUNG IST VON DISRUPTION BETROFFEN

Disruption ist, wenn in Stein gemeißelte Erfolgsfaktoren nicht mehr gelten. Das kennen wir von Branchen, Geschäftsmodellen und Technologien. Doch Gleiches gilt auch für Führungskräfte und die Art, wie sie managen und führen. Und in Sachen Führung war 2020 besonders brutal und stellte Führungskräfte vor die Zerreißprobe. Nichts war auf einmal arbeits- und zeitintensiver als Führen. Plötzlich musste man sich um die Mitarbeiter im Homeoffice kümmern. Schließlich war es bei leeren Büros nicht mehr möglich, bloß durch reine Anwesenheit zu „führen“.

Das zeigte uns allen, was seit vielen Jahren in Führungspositionen falsch gemacht wird: zu viel Zeit in Projekte und zu wenig Zeit in Mitarbeiter zu investieren. Die Krise hat uns im Zeitraffer gezeigt, welche Bedeutung Kapitäne und Kapitäninnen haben, das Schiff mit Mitarbeitern durch einen Orkan zu steuern. Offensichtlich hat sich das Mehr an Zeit gelohnt. Ein Großteil der Arbeitnehmer ist zufrieden damit, wie ihr Unternehmen die Coronakrise bewältigt. Das zeigt der kununu Employer Transparency Ticker aus der DACH-Region. Deutschland punktet mit 78,2 Prozent Zufriedenheit knapp hinter der Schweiz (79,2 Prozent) und Österreich (82,4 Prozent). Gelobt und verbessert haben sich hier insbesondere der offene Umgang mit Informationen und die Reaktionsschnelligkeit. Beides ist wichtig für ein Gefühl der Sicherheit. Einige Befragte betonen, sie hätten das Gefühl, es gehe ihren Vorgesetzten wirklich um das Wohl der Mitarbeiter.

Wer jetzt glaubt, alles wieder auf Los setzen zu können, sobald die Krise vorbei ist, der irrt gewaltig. Nach der Krise ist vor der Krise. Wie auch immer die aussehen wird. Vielleicht noch ein Virus? Eine Finanzkrise? Ziemlich sicher aber wegbrechende Geschäftsmodelle oder aussterbende Berufe durch Digitalisierung und Roboterisierung. Eigentlich bleibt ab jetzt Krise, halt nur in anderer Form oder mit wechselnden Namen. Disruption gehört zum Alltag einer Führungskraft. Und das Bedürfnis von Mitarbeitern nach Information, Sicherheit und Reaktionsschnelligkeit wird immer und dauerhaft hoch bleiben.

Daher verändert sich Führung. Und dafür brauchen wir Führungskräfte, die wirklich führen und sich Zeit dafür nehmen. Viel Zeit. Führungskräfte müssen entlastet werden von Projekten, Sonderaufgaben und sonstigen typischen Managementaufgaben. Der Aufgabenspagat einer Führungskraft zwischen wirtschaftlichen Unternehmenszielen und Mitarbeiterzufriedenheit wird immer deutlicher. Dort, wo Führungskräfte sich für die Rolle als Innovator, Mutmacher und Vertrauensbilder entschieden haben, müssen Jobprofile neu geschrieben werden. Oder organisatorisch neue und innovative Wege beschritten werden, wie etwa Shared Leadership.

Text Iris Gordelik

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