Viele glauben: Die überall propagierte neue Kundenfokussierung ist doch nur eine neue Sau, die durchs Marketingdorf getrieben wird. Es sei alles nur Show, sagen sie. Fest steht: Wer Kundenorientierung bloß als hübschen Papiertiger in seiner Unternehmenspräsentation stehen hat, wird scheitern. Eine kompromisslose Kundenzentrierung erfordert neue Prozesse, Positionen, Posten und Philosophien in Unternehmen. Klar ist: Der Weg zum Kaiser Kunde ist steinig. Die Ersten machen sich dennoch auf den Weg.
In den Führungsetagen deutscher Unternehmen hat man den Kunden wiederentdeckt und diskutiert nun über Kundenfokussierung oder wahlweise Kundenorientierung, Customer Experience und Customer Centricity. Der Kunde und wie man ihn am besten findet, bindet und pflegt, ist plötzlich in aller Manager-Munde. Der Marktführer im Teleshopping, QVC, etabliert den neuen Posten der Direktorin Customer Focus, die Deutsche Bank hat neuerdings einen Chief Client Officer, die Deutsche Bahn will 330 Millionen Euro für eine Kunden- und Qualitätsinitiative ausgeben – solche Meldungen häufen sich. Erste sichtbare Zeichen dieses Umdenkens: Plötzlich wird allerorts mit Topservice und Kundenorientierung geworben.
Und genau das ist Thomas Heise, Direktor Marketing und Sales bei HanseNet Telekommunikation GmbH in Hamburg, zutiefst suspekt: „In den 90er-Jahren herrschte in der Werbung die ‚Kauf mich, du Sau‘-Ära. Schweinebauch- Werbung à la ‚Geiz ist geil‘ war schick. Das ist vorbei. Jetzt wird der Servicegedanke mit dem Holzhammer kommuniziert. Das hat für mich nichts mit Kundenzufriedenheitsmanagement zu tun!“ Wer mit aller Macht seine Service-Orientierung kommuniziere, erreiche damit nur eins: dass die Menschen ihre Erwartungen steigern. Das führe aber mitnichten zu Kundenzufriedenheit, im Gegenteil: Die hohe Erwartung wird zum Bumerang, wenn Produkte und Service nicht zeitgleich merklich besser werden. „Weniger versprechen, mehr halten!“, sollte das Credo lauten, ist Thomas Heise überzeugt. „Ich bin ein großer Fan davon, zu verstehen, was der Kunde will, und anhand dieser Erkenntnisse Produkte und Services zu entwickeln. Aber ich würde ihm in der Werbung niemals versprechen, dass ich ihn verstehe.“ Auf die Frage, ob es nicht legitim sei, mit einer Serviceleistung zu werben, fragt Thomas Heise trocken zurück: „Haben Sie einen DSL-Anschluss?“ Und als würde das nicht schon reichen (es sei hier angemerkt: Die Autorin hat ihr Büro im ländlichen Raum und kämpft permanent gegen die mitunter aus rätselhaften Gründen erlahmende Übertragungsgeschwindigkeit im Internet), schiebt er nach: „Interessiert es Sie, ob das Unternehmen, bei dem Sie den DSL-Anschluss haben, einen Customer Centricity Manager hat? Wie viele Leute dort im Call Center arbeiten? Welche Befugnisse das Beschwerdemanagement hat? Oder interessiert es Sie, ob das Produkt stabil funktioniert?“ Den Kunden zu verstehen heiße nicht, ihm permanent zu sagen, wie wahnsinnig gut man ihn versteht! Wenn es nach Thomas Heise ginge, müsste die alte PR-Regel „Tue Gutes und rede darüber“ umgewandelt werden in: „Tue deinen Kunden Gutes und sprich nicht drüber, sondern lass sie selbst darüber sprechen.“
Ein leuchtendes Beispiel: die Ritz Carlton Hotels. Hat ein Gast dort ein Problem, lässt ihn der Hotelmitarbeiter erst dann aus seinen Fängen, wenn das Problem gelöst ist. Dafür verfügt jeder Mitarbeiter – vom Portier über das Zimmermädchen bis zum Hotelmanager – über ein Budget für Eskalationsfälle, das er eigenmächtig ausgeben kann. Thomas Heise fragt: „Haben Sie Ritz Carlton schon mal über Service sprechen hören?“ Kundenorientierung ist aufwändig, anstrengend, unbequem – und unverzichtbar.
Ob Unternehmen ihre Kundenorientierung kommunizieren sollten oder nicht – daran scheiden sich die Geister. Felsenfest steht hingegen: Wer es ernst meint mit der neuen Orientierung am Kunden, der kommuniziert dies erst dann, wenn er zuvor einen komplexen und anstrengenden Job erledigt hat – nämlich die unternehmensinternen Prozesse und Strategien so umzustrukturieren, dass sie der neuen Kundenorientierung entsprechen.
So geschehen bei der Commerzbank in Frankfurt. Seit der Finanzkrise sind die Banken bei ihrer Kundschaft in Ungnade gefallen: Die Kunden sind skeptischer, misstrauischer, selbstbewusster, preisbewusster und wechselwilliger als zu Vorkrisenzeiten. Die Commerzbank, die zudem noch den Merger mit der Dresdner Bank zum nunmehr zweitgrößten Finanzinstitut des Landes mit elf Millionen Kunden meistern musste, hat auf das neue Kundenverhalten reagiert. Im März 2010 änderte sie zunächst die interne Struktur: Drei Manager sind seitdem in einem direkt unter dem Vorstand angesiedelten Management Board dafür zuständig, Marketing, Vertrieb und Produktentwicklung streng aus Kundensicht zu betreiben.
Marketingleiter Martin Nitsche sind nun alle Customer Touchpoints zugeordnet, so wie etwa das Online-Banking, das Beschwerdemanagement, die Print-Kommunikation und das gesamte CRM. Auch ist er der Aufsichtsrat des hauseigenen Call Centers. Das Beschwerdemanagement hat mehr Befugnisse, eine neu etablierte „Kundenanwältin“ sorgt für Deeskalation bei Problemfällen und eine eigens kreierte Kundencharta verspricht den Commerzbank-Klienten fünf Rechte, die da wären: erstklassige Beratung, hochwertige Produkte, bester Service, Verlässlichkeit und Mitbestimmung. Die Boni der Topmanager sind an die Ergebnisse der monatlichen Kundenzufriedenheitsbefragungen gekoppelt und nicht zuletzt betreibt die Commerzbank neben einem Blog eigene Facebook- und Twitter-Pages sowie Social-Media-Monitoring. Marketingleiter Martin Nitsche ist überzeugt, dass die Online-Erfahrungen die Kunden nachhaltig prägen: „Der Effekt der Digitalisierung unserer Welt ist, dass sich auch die Offline- Welt ändert. Die Maßstäbe an Einfachheit, Offenheit und Dialogfähigkeit, die wir als Konsumenten im Web lernen, erwarten wir auch in der Offline-Welt.“
Aus diesem Grunde laute das Recht Nummer 5 auf der Kundencharta: „Sie bestimmen mit.“ Einfach, offen und im Dialog mit den Kunden sein – all das hat sich auch die ERGO Versicherungsgruppe in Düsseldorf verordnet. Die Marke ERGO existiert seit Sommer 2010, in ihr sind die altbekannten Marken Hamburg-Mannheimer und Victoria aufgegangen. Die Neupositionierung wird seit Monaten mit hohem Werbedruck kommuniziert, von der Konkurrenz mit Argusaugen bewacht und von der Werbewelt mit hoher Aufmerksamkeit bedacht, denn: ERGO geht neue Wege in der Assekuranzbranche. Die Kampagne läuft unter dem Motto „Versichern heißt verstehen“, soll die Bedürfnisse der Kunden konsequent in den Fokus rücken und thematisiert das, was Kunden an Versicherungen kritisieren, nämlich dass sie zu kompliziert, zu bürokratisch und zu unverständlich sind. Vor dem Marken-Launch hatte ERGO sich intensiv mit seinen Kunden befasst und sie nach ihren Einstellungen Versicherungen gegenüber gefragt. Die Ergebnisse waren ernüchternd, das Image der Branche ist nicht eben strahlend. „Und statt die heile lustige Werbewelt zu zeigen, haben wir die Kritik der Kunden an der Branche in cineastische Bilder gefasst“, erklärt Dr. David Stachon, Marketingleiter der ERGO Versicherungsgruppe, die mit weltweit 55.000 Mitarbeitern und rund 14.000 angestellten und selbstständigen Vermittlern in Deutschland laut eigenen Angaben die größte Außendienstorganisation des Landes unterhält.
Die Menschen vertrauen offenbar darauf, dass die Kampagne kein bloßes Lippenbekenntnis ist. Im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet ERGO mehr Neugeschäft und mehr Vermittler. Vor den Lohn haben die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt, und so sagt auch Dr. David Stachon: „Ich habe das anstrengendste Berufsjahr meines Lebens hinter mir, aber es hat sehr viel Spaß gemacht und ich möchte keinen Tag missen!“ Eine der größten Aufgaben sei die Überzeugungsarbeit nach innen, und natürlich habe Veränderung auch immer mit persönlichem Risiko zu tun: „Man übernimmt Verantwortung. Da befallen einen schon mal Zweifel, ob man das durchhält.“
2011 gelte es, die in der Kommunikation verheißenen Versprechungen im Alltagsgeschäft unter Beweis zu stellen. „Wir müssen unsere Haltungsänderung in einem geänderten Verhalten beweisen“, sagt er. Und: „Wir sind in einem der größten Veränderungsprozesse, die dieser Konzern je erlebt hat.“ Stufe drei zündet 2012: Spätestens dann sollen neue Produkte auf den Markt kommen, die sich strikt an Kundenbedürfnissen orientieren.
Derzeit überarbeitet ERGO seine gesamte Regelkommunikation, um sie kundenfreundlicher zu machen. Der Marketingleiter gibt sich nicht der Illusionen hin, dass Kundenfokussierung ein schnell abzuarbeitendes Projekt sein könnte: „Das wird ein Marathonlauf, wir sind gut gestartet, aber vielleicht gerade mal bei Kilometer 3, es werden noch Hürden zu überwinden sein.“ Damit ist ERGO immerhin schon drei Kilometer vor seinen Wettbewerbern auf dem Weg zum Ziel – dem Kaiser Kunde.
Letztendlich darf man gespannt sein, welche der zahlreichen Unternehmen, die plötzlich ihre Kunden für sich entdeckt haben, sie tatsächlich auch langfristig inthronisieren. Und wie schwer die Kunden iejenigen strafen werden, von denen sie sich nicht ausreichend wertgeschätzt fühlen.
Text: Vera Hermes
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