Es haut einfach nicht mehr hin. Die wortreichen Beschreibungen über Silver Surfer, Best Ager, Golden Generation, 50plus, junge Alte und was es da noch an schönen Kategorisierungen für Menschen jenseits der 49 Jahre gibt, waren wahrscheinlich schon immer blödsinnig. Weil sich aber unsere Gesellschaft zunehmend individualisiert und sich Menschen einfach nicht mehr qua Alter in eine Schublade packen lassen, taugt eine pauschale Zielgruppenbeschreibung nun überhaupt nicht mehr. Ebenso wenig, wie man Sechs- und Sechsundzwanzigjährige in einen Topf werfen würde, kann man das mit 50- und 70-Jährigen tun. Bei vielen Marktforschern hat sich diese Erkenntnis mittlerweile durchgesetzt; wenn sie nach Alter gruppieren, dann meist in Dekaden: So also etwa nach 50- bis 60-Jährigen, die meist eint, dass sie noch berufstätig sind und häufig auch noch Kinder im Haus haben; die 60- bis 70-Jährigen, die mehrheitlich den Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand erleben; die 70- bis 80-Jährigen, die sich im Ruhe stand eingerichtet haben, und die Hochbetagten, die auf ein langes Leben zurückblicken. Trotzdem sind selbst diese Einteilungen nur sehr grobe Raster; mittlerweile sind Lebensläufe so individuell und Lebensstile so vielfältig, dass sich Menschen, egal welchen Alters, kaum noch über einen Kamm scheren lassen. Wenngleich sich Ältere natürlich von Jüngeren unterscheiden. Im Marketing ist die Botschaft von der Heterogenität der Alterskohorten noch nicht so richtig angekommen. Dort werden ältere Menschen, wenn überhaupt, meist pauschal als fitte, fröhliche, finanzstarke Leute dargestellt, die dem Sonnenaufgang entgegenjoggen, an Relings von Kreuzfahrtschiffen lehnen oder ihre wonnigen Enkelkinder besuchen. Ein differenziertes Bild von Alter?
„Fünfzehnjährige sind nicht alle gleich, glaub mir. Und ich soll ganz genau so sein wie alle anderen vierundsechzigjährigen Männer?“
Tad Milliken, Bösewicht, in Jonathan Franzens Gesellschaftsroman „Unschuld“
Fehlanzeige! Das hat seinen Grund, denn unsere Gesellschaft orientiert sich an jugendlichen Werten wie Leistungsfähigkeit, Flexibilität und Jugendlichkeit. Weshalb Alter ein sehr, sehr heikles Thema ist. Edeka zum Beispiel ist mit seinem Heimkommen-Spot aus der Konsens-Werbung ausgebrochen und zeigte eine traurige Seite des Alters: Einsamkeit. Der Spot mit dem alten Mann, der zu Weihnachten seinen Tod vortäuscht, damit die Familie zusammenkommt, hat Millionen Menschen emotional berührt, viele Preise gewonnen und Edeka dem Vernehmen nach einen extrem umsatzschwachen Dezember beschert. Nestroys schöner Satz „Ja, lang leben will halt alles, aber alt werden will kein Mensch“ gilt mehr denn je. Weshalb Zielgruppenforscher nachdrücklich davor warnen, Ältere als Ältere anzusprechen. Zwar fühlen sich Menschen jeden Alters generell zehn Jahre jünger, als sie sind, aber insbesondere Menschen jenseits der 50 setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um jünger zu wirken.
VON WEGEN RUHESTAND!
Das Kölner Marktforschungsinstitut concept m hat in seiner lesens- werten Studie „Vom Best Ager zum Restless Ager“ die unterschiedlichen Lebenswelten der über 50-Jährigen untersucht und dabei fest- gestellt, dass viele Ältere zumindest eines eint, nämlich, so concept m-Mitgeschäftsführer Thomas Ebenfeld, „der enorme Druck, mithalten zu müssen“. Die Forscher hat überrascht, in welch hohem Maß die Menschen getrieben sind. Aus Angst, aufs Abstellgleis geschoben und nicht mehr gebraucht zu werden, mühen sie sich, jünger, fitter, dynamischer und leistungsfähiger zu sein, als sie qua Alter nun mal sind. Das ist einerseits lustvoll, andererseits aber auch verdammt anstrengend. Langeweile und Leerlauf verbieten sich, die Älteren sind ständig unter Strom. Wenn ältere Leute heute innehalten, dann allenfalls im Wellnesskontext. Sie rennen Tod und Krankheit davon, sagt Ebenfeld. Krank sein – früher noch als bedauerlicher Schicksalsschlag gewertet – wird heute als selbstverschuldete Konsequenz eines falschen Lebensstils betrachtet. Generell orientieren sich die Älteren heute lieber an jüngeren Generationen als an ihrer eigenen, so ein Fazit von concept m. Der Begriff „Ruhestand“ werde ad absurdum geführt: Man setze sich nicht mehr zur Ruhe, sondern starte oft neu durch. Die Weiterentwicklung werde im Sinne der Selbstoptimierung vorangetrieben, ob durch Sport, Fortbildung oder durch Entdecken neuer Horizonte. Diesen Maximierungskult kann man durchaus kritisch betrachten, er bietet aber auch tolle Chancen. Solange ihnen ihr Körper (und die Finanzen) keinen Strich durch die Rechnung machen, sind die Älteren heute frei zu tun, was sie möchten. Das ist neu. GUTE AUSSICHTEN Professor Norbert Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, schreibt: „Der Lebensabschnitt nach dem 65. Lebensjahr ermöglicht vielen Menschen heutzutage, das eigene Leben aktiv zu gestalten – eine „späte Freiheit“, von der frühere Generationen nur träumen konnten.“ Und die macht offenbar glücklich. Hilke Brockmann, Soziologieprofessorin an der Jacobs University in Bremen, erklärte 2014 anlässlich der Veröffentlichung ihres Buches „Human Happiness and the Pursuit of Maximization. Is More Always Better?“ im Spiegel-Interview, dass das Glück ein U sei: Mit Anfang 20 ist man in der Regel total happy, dann geht’s mit Midlife-Crisis, zerbrechenden Partnerschaften oder geplatzten Träumen bergab – und kurz vor der Rente wieder auf das Niveau der Anfang-20-Jährigen. Dann liegt, wenn es gut läuft, noch ein schöner langer Lebensabschnitt vor einem: Hatten 60-jährige Männer in den Jahren 1871-1881 im Durchschnitt noch 12,1 Jahre zu leben, waren es in den Jahren 2012/2014 laut Statistischem Bundesamt bereits 21,5 Jahre. In der Regel erlebt der heute 60-Jährige diese Zeit körperlich und geistig deutlich gesünder als sein Altersgenosse aus dem 19. Jahrhundert. Zurzeit sind in Deutschland 22 Millionen Menschen 60 Jahre und älter, also mehr als jeder Vierte. Bis zum Jahr 2050 soll ihr Anteil auf 38 Prozent ansteigen. Bei den Hochbetagten über 80 Jahren wird sich der Anteil von derzeit sechs auf 13 Prozent mehr als verdoppeln. Es werden dann etwa zehn Millionen Menschen über 80 Jahre alt sein. Angesichts dieser Aussichten und des langen, gesunden Lebens, das wir führen dürfen, ist eigentlich glasklar, dass eine längere Lebensarbeitszeit keine Frage des Wollens, sondern des Müssens sein wird. Die Bundesbank forderte die Bundesregierung erst Mitte August dazu auf, das gesetzliche Renteneintrittsalter bis 2060 auf 69 Jahre zu erhöhen. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble möchte – übrigens wie schon in Dänemark praktiziert – die Altersgrenze an die Lebenserwartung koppeln.
3 Fragen, DIE SICH ARBEITGEBER STELLEN SOLLTEN …
… LAUTEN GEMÄSS DEM WEBSITE-BETREIBER VON http://ARBEIT-UND-ALTER.DE:
- Welchen Stellenwert haben ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meiner Belegschaft?
- Was sind deren Bedürfnisse?
- Wie bleibe ich mit einer älteren Belegschaft innovativ und erfolgreich?
Ein Indiz, dass sich mit der demografischen Entwicklung langsam, aber sicher auch die gesellschaftliche Haltung zum Altern ändert, könnten Titelgeschichten wie die der BILD am Sonntag vom 29. Mai 2016 sein, die da lautete: „Alt? Ja bitte! Mehr 50plus ist gut für unser Land“. Eine BILD’sche Botschaft: „Anti-Aging ist Bullshit“. Vielleicht war’s ernst gemeint, vielleicht aber auch eine neue Form der Leser-Blatt-Bindung, denn die Rezipienten der Zeitung dürften keine Digital Natives sein. „DER DEMOGRAFISCHE WANDEL SCHAFFT GRÜNDE“ Bundespräsident Joachim Gauck brachte es anlässlich der Ausstellungseröffnung „Dialog mit der Zeit“ – eine Ausstellung über die Kunst des Alterns – auf den Punkt: „Beim demografischen Wandel geht es nicht allein um die gewonnenen Jahre und die Belange älterer Menschen. Altern beginnt bei der Geburt. Wir müssen das verlängerte Leben insgesamt in den Blick nehmen. Und wir müssen die Lebenszeit neu strukturieren. Wir brauchen neue Muster für lange Lebensläufe, neue Verflechtungen von Lernen, Arbeit und Privatem.“ Die lange lebende müsse zur lange lernenden Gesellschaft werden. „Es geht um eine neue Einstellung zum Lernen, aber auch um Neu- gier in einem längeren Leben. Es geht zugleich um neue Anreize und institutionelle Lösungen, wo die alten Modelle nicht mehr tragen“, so Gauck. Tatsächlich hat sich die Zahl der 65- bis 69-jährigen Erwerbstätigen in den vergangenen zehn Jahren auf 14 Prozent gut verdoppelt. Gauck erhofft sich künftig mehr Flexibilität – nicht nur von der Politik, sondern auch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern: „Branchen- oder Berufswechsel, freiwillige Neuanfänge gar, sind bei uns eher die Ausnahme. Der demografische Wandel schafft Gründe und wohl bald auch den nötigen Druck, um das zu ändern.“ Wir werden also wohl länger und flexibler arbeiten – was ja, sofern man seinen Job liebt, eine durchaus gute Aussicht ist.
WISSEN VERFÄLLT
Dabei sollte sich niemand der Illusion hingeben, dass er sich auf irgendwelchen, in der Vergangenheit gewonnenen Lorbeeren ausruhen könnte. Die Digitalisierung hat dem Alter quasi einen Stoß versetzt, denn: Der Wert von Wissen verfällt rapide. Noch vor 20, 30 Jahren hatte ein älterer Berufstätiger, wenn es gut lief, einen soliden Wissensvorsprung vor jüngeren: Er oder sie hatte im Laufe der Karriere Know-how, ein Netzwerk und Routine aufgebaut und damit einen Erfahrungsschatz, der einen guten Ausgleich zu Feuereifer, Flexibilität, Wissbegier und Leistungskraft der Jüngeren bildete. Lapidar gesagt: Dieser Drops ist gelutscht. Der Schweizer Trendforscher Dr. David Bosshart ist überzeugt, dass, wer heute zum Beispiel ein Handelsunternehmen führen will, nicht allein branchenerfahren sein muss, sondern einen Know-how-Dreisprung beherrschen sollte. Der erforderliche Mix: ein Drittel Branchenwissen, ein Drittel Transformationswissen, ein Drittel digitales Wissen. Die technische Entwicklung ist so schnell, die Innovationszyklen sind so kurz, die digitale Transformation ganzer Branchen so fix, dass jahrzehntelang erworbene Kenntnisse über Prozesse oder Wertschöpfungsketten, über Fertigung oder Führung, über Kommunikation oder Kundenverhalten binnen kürzester Frist wertlos werden. Was vermutlich sowohl das Selbstbild jedes erfahrenen Mitarbeiters erschüttert als auch komplette Unternehmenskulturen: nicht Erfahrung, Perfektion, Gründlichkeit und Disziplin führen zum Erfolg, sondern Höchstgeschwindigkeit, Mut zur Lücke, das Bekenntnis zum Scheitern. Das muss man erst mal ertragen, wenn man Berufsjahrzehnte lang darauf gepolt war, niemals unausgegorenes Zeug abzuliefern.
Andererseits: Der digitalisierungsbedingte Trend, Fehler zu tolerieren statt sie zu sanktionieren, erleichtert das Leben ungemein. Er nimmt Druck, macht kreativ, lädt zum Improvisieren und schafft Freiheit. Davon profitieren (hoffentlich) Menschen jeden Alters. Und es ist auch nicht so, dass sämtliche Erfahrung nun überflüssig wäre. Der Digitalverband Bitkom ermunterte Unternehmen erst unlängst dazu, auf den richtigen Alters- mix in der Belegschaft zu achten und in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter zu investieren. „In der digitalen Welt ist das Innovationstempo hoch, Wissen veraltet deshalb besonders schnell. Unternehmen und Mitarbeiter sind deshalb gleichermaßen gefordert, die Weiterbildung nicht als Nice-to-have, sondern als zentralen Bestandteil des Arbeits- lebens zu begreifen“, mahnte Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder. Diesen Appell sollten sich Berufsanfänger und alte Hasen gleichermaßen zu Herzen nehmen. Und so sind zum Schluss die Herausforderungen für Alt und Jung in puncto Arbeiten dieselben: Es geht darum, am Ball zu bleiben, flexibel zu sein, Neugier zu bewahren. Jeder mit seinen Stärken. Alle, die sich gerade auf den zweiten Schwung des Glücks-U zubewegen, haben große Chancen, noch lange mittendrin zu sein und gemeinsam mit den Jungen richtig was zu reißen – am besten gelassen, reif und souverän statt getrieben von einem merkwürdigen Jugendlichkeitswahn.
Text: Vera Hermes
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