Die Machtverschiebung

Spurwechsel für Unternehmen

Innovative Unternehmen erleben gerade eine Art Unternehmenskulturrevolution. Der Kunde von heute gewinnt immer mehr Macht. Er ist wenig loyal, gut informiert und tendenziell immer auf dem Absprung. Also müssen Unternehmen ihre Kunden nun tatsächlich in den Mittelpunkt stellen und dies nicht bloß in ihren Mission Statements propagieren. Mit der Machtverschiebung hin zum Kunden verschiebt sich zugleich die Macht aus anderen Abteilungen in Richtung Service – denn schließlich kommen aus der Service-Abteilung die authentischen Kundeninformationen, die für Verbesserungen, Produktinnovationen und – ja! – auch Service-Vermeidung genutzt werden können. Für Ad-Scopum-Chef Stephan Pucker ist dieser Weg unausweichlich.

Herr Pucker, lange Jahre waren Call Center so etwas wie Erfüllungsgehilfen von Marketing und Vertrieb. Die Abteilung, die dem Kunden am nächsten ist – nämlich das Call Center, auch Service-Center, Customer-Care-Center oder Kunden-Center genannt –, hatte in kaum einem Unternehmen wahrnehmbaren Einfluss auf die Unternehmensstrategie. Das ändert sich gerade. Warum?

Stephan Pucker: Unternehmen stellen mehr und mehr fest, dass der Service-Bereich eine wichtige Aufgabenstellung sehr effektiv lösen kann – nämlich dem Unternehmen aus Kundensicht den Spiegel vorzuhalten. Was die einzelnen Unternehmensbereiche in diesem Spiegel sehen, ist oftmals nicht sehr schmeichelhaft. Ein enormer Anteil des Kontaktvolumens im Kundenservice entsteht durch unausgereifte Produkte, fehlerhafte Prozesse, unverständliche Kommunikation und dergleichen. Das sind lauter Defekte, deren Ursachen außerhalb des Kundenservice zu finden sind. Statt die Ursachen anzugehen, hat man über lange Jahre die Service-Bereiche in die Pflicht genommen, die Stückkosten für diese „Reparaturleistungen für Unternehmensdefekte“ zu drücken. Kunden sind es leid, dass Prozesse und Lieferprobleme auf ihrem Rücken ausgetragen werden, um dann mit Service-Mitarbeitern zu sprechen, die oftmals keine wirkliche Abhilfe schaffen können.

Das würde ja bedeuten, dass die Unternehmen „bloß“ in den vorgelagerten Prozessen – Produktion, Logistik et cetera pp. – optimieren müssten, im Service aber alles in bester Ordnung ist, weil die Service-Mitarbeiter ja gar nicht selbst verantworten, dass sie den Kunden nicht weiterhelfen können?

Stephan Pucker: Na ja, „bloß“ die vorgelagerten Prozesse zu verbessern ist schon ziemlich komplex, und man muss sehr genau hinschauen, welche Maßnahmen tatsächlich den größten Hebel auf die Kundenloyalität haben und für das Unternehmen zeitnah umsetzbar sind. Ein weiterer wichtiger Schritt ist es, Zielkonflikte aufzulösen und die Verantwortung für die „Customer Experience“, also die Wahrnehmung des Unternehmens und seiner Leistungen aus der Sicht des Kunden, in die Zielvereinbarungen der einzelnen Bereiche zu integrieren. Es ist schon ein erheblicher Unterschied, ob ich zum Beispiel ein Produktmarketing daran messe, wie schnell neue Produkte gelauncht werden, und dabei Startschwierigkeiten billigend in Kauf nehme oder aber daran, ob die Kunden wirklich begeistert sind und zu aktiven Weiterempfehlern des neuen Produktes werden.

Nehmen wir an, die Kunden sind begeistert und aktive Weiterempfehler. Was bedeutet das für den Service?

Stephan Pucker: Für den Service bedeutet dies, Schritt für Schritt neue Aufgaben zu übernehmen. Heute ist Service tendenziell reaktiv unterwegs, getrieben von der Last vieler vermeidbarer Kontakte. Wenn sich das Blatt wendet, entstehen neue Aufgaben, wie etwa den Kunden mit proaktiven Kontakten zu begrüßen, im Lebenszyklus aktiv zu umsorgen und weitere auf den Kunden zugeschnittene Optionen und Produkte anzubieten. Dafür müsste der Kundenservice auf Augenhöhe mit Marketing, Vertrieb sowie Forschung & Entwicklung zusammenarbeiten.

Ist das in den Unternehmen schon der Fall?

Stephan Pucker: Nein, das ist eher die Ausnahme als die Regel. Aber es gibt erste Leuchttürme, die den Weg weisen. Ein organisatorischer Schritt dazu kann die Berufung eines Chief Customer Officers sein, der nachhaltig für die Sicht des Kunden im Unternehmen eintritt. Es gibt aber auch Unternehmen, die diesen Spurwechsel in der bestehenden Organisation durch neu gesetzte Prioritäten erfolgreich hinbekommen haben und deren neu auf den Kunden ausgerichtete Führung durch deutlich verbesserte Markterfolge immer weiter befeuert wird.

Zum Beispiel?

Stephan Pucker: Ein Beispiel, das mich persönlich begeistert, ist die 1&1 Internet AG. Das Unternehmen verzeichnete eine rückläufige Kundenzufriedenheit und hat sich Ende 2009 entschieden, mit einem umfassenden Programm den Zufriedenheits-Turnaround zu schaffen. Zunächst wurden die wichtigsten Ursachen für die Kundenunzufriedenheit identifiziert und mit großer Entschlossenheit angegangen. Dazu zählen zum Beispiel die Abschaffung der kostenpflichtigen Hotline und attraktive Angebote auch für Bestandskunden. Inzwischen hat sich der Fokus vollkommen auf die aktive Schaffung von Begeisterungsfaktoren verlagert. Das ist es, was mich wirklich fasziniert. In welch kurzer Zeit das Unternehmen es geschafft hat, chronische Probleme abzustellen und den gewonnenen Spielraum für neue, jetzt auf Kundenbegeisterung angelegte Themen einzusetzen.

Sind Mitarbeiter und Führungskräfte für einen solchen Spurwechsel vom reaktiven zum aktiven Service generell hinreichend qualifiziert?

Stephan Pucker: Sicher nicht gleich auf allen Ebenen, aber ich bin immer wieder begeistert, welche Kräfte und welches Engagement freigesetzt werden, wenn diese Ausrichtung erst einmal klar ist, die Veränderung als erstrebenswert erkannt und eine Art kollektive Kreativität freigesetzt wird. Es ist weniger ein Thema der Qualifikation als vielmehr des Verständnisses dafür, was die eigene Rolle ist und welche Prioritäten gesetzt werden. Qualifikation könnte man schulen, ein Rollenverständnis lässt sich hingegen nur mühsam ändern.

Was genau müssen Unternehmen, die sich kundenorientiert ausrichten wollen, an der Basis tun – also bei den Agenten im Service-Center –, damit alle mitziehen und tatsächlich kundenorientiert agieren?

Stephan Pucker: Na ja, was ich über die Jahre beobachten konnte, ist, dass jeder das Service-Center oder den Call-Center-Dienstleister hat, den er verdient. Das Problem liegt weniger bei den Agenten als vielmehr in den Kriterien, nach denen diese gesteuert werden. Ich kenne kaum ein Service-Center, das nicht primär über Effizienzkriterien gemanagt wird. Was zählt, sind die Transaktionenkosten und damit letztlich die für den Kunden im Schnitt eingesetzte Bearbeitungszeit. Wenn man in einer solchen Organisation dann Detailuntersuchungen der einzelnen Kontakte macht, findet man statt wohlgestalteter „Customer Journeys“ eine Kundenodyssee nach der anderen. Meist geht der erste Kontakt eines Kunden auf ein systemisches Problem in einem anderen Unternehmensbereich zurück. Was folgt, ist eine niederschmetternde Verkettung unerquicklicher Service-Kontakte, die das Problem nicht beseitigen und den Kunden in den Wahnsinn treiben. Wenn wir einfach nur Verantwortung für die Lösung des Kundenproblems übergeben würden und dann die notwendige Unterstützung liefern, mit der dies auch möglich ist, würden die Kontaktvolumen in sich zusammenfallen. Service-Center könnten viel kleiner sein als die Kontaktfabriken, die wir heute unterhalten. Und sie würden Probleme abstellen, statt Teil des Problems zu sein.

Und wie überzeugt man Skeptiker in Vorstand und Führungsteams am besten davon, dass der Kunde das Maß aller Dinge ist?

Stephan Pucker: Ich wäre ja oft schon froh, wenn das Wort „Kunde“ außer in abstrakten Verklausulierungen wie Umsatzsteigerung oder Marktanteil überhaupt in Management-Meetings vorkäme. Ich glaube, die meiste Zeit wird internen Themen oder der Shareholder-Pflege gewidmet. Eine segensreiche Übung besteht darin, bei jedem einzelnen Agenda-Punkt die Frage zu stellen, ob irgendein Kunde einen Mehrpreis dafür zahlen würde, dass dieses Thema jetzt erörtert wird. Konsequent eingesetzt kann das viel Zeit für das Wesentliche freisetzen. Ansonsten sind zwei Komponenten wichtig: 1. Die Verbindung von Kundenloyalität zu den finanziellen Kennzahlen des Unternehmens. Was bedeutet es für den finanziellen Erfolg, wenn Kunden, statt zu wechseln, mehr kaufen, immer wiederkommen und dabei noch ihre Freunde mitbringen? 2. Ein möglichst direktes Erleben von Kunden und ihren Anliegen. Jeden Monat einen Tag im Service-Center oder in der Filiale verbringen. Zum Miterleben und nicht zum Repräsentieren. Das erdet und schützt vor Fehleinschätzungen, wenn die nächste weltkluge Idee diskutiert wird.

Was prognostizieren Sie denjenigen Unternehmen, die einfach weitermachen wie gehabt?

Stephan Pucker: Dass sie das früher oder später ändern werden.

Das Interview führte Vera Hermes

Stephan Pucker ist Gründer und Geschäftsführer von Ad Scopum in Paderborn. Das Unternehmen ist spezialisiert auf Customer Experience Management und hilft Unternehmen, ihre Service-Qualität und Kundenwahrnehmung nachhaltig zu verbessern. Ein wichtiger Arbeitsschwerpunkt liegt in der Kundenfokussierung und systematischen Beseitigung wiederkehrender Kundenprobleme („The Best Service is no Service“), um operative Kosten zu senken und Kunden mit einfachen und schnellen Prozessen zu begeistern. Gemeinsam mit seinen Partnern von der LimeBridge Global Alliance arbeitet er international für Kunden wie Microsoft, McDonald’s, Vodafone oder E.ON.

www.adscopum.com

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