Druckmacher

2020-12-20T13:26:20+01:0015. Februar 2020|Tags: , , , , , |
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Ja, na klar schreiben wir einen Beitrag für euch, was die Jugend antreibt, die Welt zu verändern. 5000 Zeichen inklusive Leerzeichen – jap, schaffen wir! Was für eine tolle Chance. In einem Magazin für Führungskräfte und Managementaufgaben unsere Person und unsere Motivation vorzustellen, das lassen wir uns nicht entgehen. Wir, Leah (27) und Norbert (29), das ehemalige Vorsitzenden-Duo des Kehler Ortsverbands der Grünen.

 

Jetzt haben wir die Möglichkeit, Menschen zu erreichen, in deren Liga wir vermeintlich bisher nicht spielten. Da machen wir doch direkt mal Druck! Setzen punktuell die richtigen Anreize, um sie zum Umdenken zu bewegen und unsere Gedanken weiterzutragen. Also dann mal los! Kurze Abstimmung mit der Redaktion: klare Fakten, klare Linien, offene Kommunikation, bodenständige Einstellung. Super, so können wir, zwischen 40-Stunden-Job, nebenberuflichem Studium, Ehrenamt, Freunden und Familie, arbeiten!

 

Tja, aber was machen wir eigentlich gerade, um die Welt zu retten? Wo und wie machen wir an den richtigen Stellen Druck, um die Kluft zwischen Arm und Reich zu verschieben, Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu schaffen, Tierrechte zu etablieren, die Informations- und Geldflüsse zwischen Interessenvertretern und Regierung einzudämmen, das Wegsterben ganzer Bienenpopulationen zu stoppen oder Waffenexporte in Länder zu unterbinden, wo Demokratiebewegungen immer stärker unter Druck stehen?

 

Ach, und um Himmels willen, was machen wir denn dann mit dem ganzen Weltfrieden, wenn die Polkappen weiter schmelzen und uns der Meeresspiegel überrollt? Der Anstieg von Hitzewellen zum Ausbruch neuer Krankheiten führt und Ernteerträge ausbleiben? Und die Ressourcenknappheit Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertreibt? Dann ist er wieder dahin, der eben errettete Weltfrieden. Aber wir müssen uns ja nicht allzu viele Sorgen machen. Unser finanziell und industriell gut aufgestellter, einflussreicher Staat wird sich schon vor den Folgen der wiederkehrenden Krisen zu schützen wissen.

 

Ratlosigkeit und Lethargie machen sich breit. Warum macht denn niemand was? Warum fühlt sich denn hier niemand verantwortlich, unseren Planeten zu retten? Wir sind mitten in der Klimakatastrophe, alles gerät aus den Fugen und ihr merkt das nicht? Selbst wenn ich „Klimawandel stoppen“ ganz oben auf meine To-do-Liste schreibe, wie soll ich das denn alleine und abends um 22 Uhr noch schaffen? Ich habe keine Zeit, mich jetzt noch jahrelang im lokalen Bürgerverein zu engagieren, bis mir endlich jemand zuhört. Vor allem, wo ich mich in den letzten Jahren ohnehin nicht besonders gut durch die Politik vertreten fühlte. Mein Vertrauen in politische Institutionen ist in den letzten Jahren merkbar zurückgegangen. Ich muss jetzt ganz schnell eine Beteiligung finden, die pragmatisch und punktuell meine politischen Interessen und Ziele vertritt. Es ist fünf vor 12!

 

Ha, ich hab´s! Online-Petitionen! Das ist genial, so kann ich trotz meines straffen Zeitplans meinen Protest per öffentliche Unterschrift kundtun. Es zeichnet sich eindeutig ein Wertewandel in den sozialen Netzwerken ab, den müssen wir nur noch auf die Straße bringen. Das gemeinsame Ziel ist, ein gutes Leben für alle Lebewesen und den Planeten zu schaffen, unterstützt durch Solidarität, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Endlich geht wieder was. Hier hält sich niemand mit langen Abstimmungsschleifen und mehrstufigen Bürokratieprozessen auf. Was für eine mächtige Bewegung, denke ich mir, während ich mich monatelang von Unterschrift zu Unterschrift durch die Plattformen klicke. Die Ansprache weckt meinen Enthusiasmus. Da ist es wieder, mein idealistisches Kämpferherz, der überschwängliche Glaube daran, dass ich die Welt retten kann. Ich habe mich gar nicht vom politischen System der Bundesrepublik entfernt. Meine Bereitschaft, mich zu engagieren, ist ungebrochen. Ich lebe schließlich in einer Demokratie, in der ich mit meinen eigenen Fähigkeiten politischen Einfluss ausüben und Dinge verändern kann. Scheinbar interpretiere ich Politik einfach nur anders.

 

Aber wo fange ich denn nun am besten an und wie schaffe ich es, mit wichtigen Entscheidungsträgern ins Gespräch zu gehen und sie von der Sachlage zu überzeugen?

 

„Hey Leah“, ploppt eine Kurznachricht auf meinem Handy auf. „Lass uns mal unsere Erkenntnisse zusammentragen und den Artikel schreiben.“ „Norbert! Wie gut, dass du schreibst! Das hatte ich völlig vergessen und irgendwie komme hier allein auch echt nicht weiter. Ich habe mich irgendwie zwischen der Überkomplexität politischer Prozesse und der Frage verloren, wie wir jungen Leute eigentlich Druck in der Klimapolitik machen.“ „Auch das können wir zusammen machen“, antwortet mir Norbert ganz selbstverständlich. Und da ist sie, die Lösung.

 

Dem einen oder anderen mag es vorkommen, als zerfalle die Gesellschaft unter der ganzen Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung. Aber vielleicht verändert sie sich auch nur. Es geht nicht darum, welche Werkzeuge die einzelnen Generationen als Druckmittel zur Erreichung von Veränderungsprozessen haben. Wir erleben zurzeit eine einzigartig neue Konstellation. Weltweit gehen junge und alte Menschen gemeinsam auf die Straße.  Wissenschaft, Wirtschaft, aber auch konservative Einrichtungen wirken zusammen, um die Politik in Sachen Klimaschutz aktiv anzuschubsen. Es gibt kaum ein Thema, bei dem sich eine so große Mehrheit der Bevölkerung einig ist. Jedem in der Gesellschaft sollte es möglich sein, ein klimafreundliches Leben zu führen. Es sind allein die Visionen, die Motivation für politisches Handeln sind.

 

Das ist das individuelle Druckmittel eines jeden Einzelnen.

 


 

Text:

 

NORBERT HENSE UND LEAH MARZLOFF

 

Norbert Hense macht gerade seinen Master in Politik, arbeitet bei dem Umweltversand Waschbär und sitzt für die Grünen im Kehler Stadtrat. Zuvor arbeitete er am Lehrstuhl der Universität Freiburg und war Kreisgeschäftsführer der Grünen in Emmendingen.

 

Um sich ihr Soziologie-Studium zu finanzieren, ist Leah Marzloff als Quereinsteigerin in der Energiebranche gelandet. Über diesen Weg kam sie nach Hamburg, um dort für einen Ökostromanbieter zu arbeiten. Seit kurzem ist sie für Ribbon im Projektmanagement tätig und der Energiebranche mit einem nebenberuflichen Studium treu geblieben. 

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