Duo fulminante: Mensch und Automatisierungstechnologie

2022-03-11T10:07:37+01:0011. März 2022|Tags: , |
Mensch und Automatisierungstechnologie, Artikel vernetzt-magazin 25

Von Harald Henn

Einen Artikel über Kundenservice und das Zusammenspiel von Mensch und neuen Technologien kann man nur aus dem Blickwinkel der Kunden heraus schreiben. Klingt logisch, aber in der Unternehmenspraxis wird dies so gut wie nie umgesetzt. Warum? Weil Customer Service ohnehin ein Kostenfaktor ist und da geht es primär um Effizienz, also Kostensenkung. Und weil Feedback von Kunden einzuholen Zeit und Geld kostet und die Unternehmen doch eh wissen, was der Kunde will. Ok, ein wenig überspitzt formuliert.

Also ganz vor vorne. Fremdwahrnehmung und Eigenwahrnehmung sind selten deckungsgleich. „Alle Kunden wollen einen persönlichen Ansprechpartner und deshalb werden wir kein Callcenter hier einrichten.“ So der O-Ton aus vielen Projekten Ende der 90er. Nein, die Kunden wollten etwas anderes: Dass man ihnen nicht die Zeit stiehlt und ihre Anliegen schnell und kompetent löst. Letztlich war und ist es den Kunden egal, wer sich um sie kümmert. Solange man sie nicht nervt.

Und heute? Führen wir die gleiche Diskussion, nur ein wenig abgewandelt. Jetzt heißt es: Der Kunde will mit einem Menschen sprechen und nicht mit einem Automaten. Nö. Will er nicht. Er will immer noch das Gleiche: „Nerv mich nicht und löse mein Problem.“

Hat sich etwas geändert seit den 90er-Jahren? Und wenn ja, sollten wir im Customer Service darüber nachdenken? Wir sollten. Definitiv. Kunden haben die Messlatte an Schnelligkeit und Customer Service jedes Jahr ein wenig höher gelegt. Genauer gesagt: Unternehmen wie Fielmann, ALDI oder Amazon verwöhnen ihre Kunden durch exzellenten Service. Und die Kunden übertragen das Erlebte auf andere Unternehmen. Warum soll ich bei meinem Energieversorger drei Tage auf eine Antwort warten, wenn das bei Amazon in fünf Minuten geht?

Aus diesem Druck heraus suchen viele Unternehmen das Heil in der Automatisierung. Für einfache Vorgänge wie die Zählerstandsabfrage beim Energieversorger oder der Adressänderung bei der Bank werden Chatbots angeboten; die komplexen Dinge bleiben dem Dialog von Mensch zu Mensch vorbehalten. Das funktioniert unter der Bedingung, dass beide Seiten – also Kunden und Unternehmen – den Dialog automatisieren wollen. Sofern man dies sicher von den eigenen Kunden weiß, ist der Einsatz solcher Technologien – Chat- und Voicebots, Selfservice-Angebote, Instant Messenger-Lösungen – für ausgewählte Anwendungsfälle sinnvoll. Die Kunst besteht darin, dass man den Kunden mehrere, und zwar für sie relevante, Dialogangebote machen muss. Damit die Kunden je nach Verfügbarkeit, Zweckmäßigkeit und Stimmung entscheiden können.

Dialoge im Customer Service sind oft komplex, weil der Kontext, aus dem der Kunde agiert, seine Gefühlslage, das Problem, welches er lösen möchte, sich nicht einfach in ein Schema pressen lassen. Die Zählerstandsabfrage für sich allein kann automatisiert werden; eine Zählerstandsabfrage gekoppelt mit dem Wunsch, auch ein Angebot für die Gasversorgung zu erhalten, vielleicht nicht. Hier sollte und muss dann der Mitarbeiter aus dem Vertrieb einspringen. Kunden akzeptieren und nutzen den Mitarbeiterdialog oder die Automatisierungstechnologien der Unternehmen, wenn diese das bieten, wofür der Kunde sie „beauftragt“ und nutzt.

Guter Service ist, was dem Kunden nützt

Und damit kommen wir zu einem der größten Missverständnisse überhaupt: die leidige Entweder-oder-Diskussion und die ewig scharfe Abgrenzung zwischen Automatisierung, Digitalisierung und den Menschen. Guter Service ist, was dem Kunden nützt. Heute der Chatbot, morgen der Mensch. Es ist der Kunde, der entscheidet, was zweckmäßig ist und passt. Beide – Mensch und Chat- oder Voicebot –  müssen kompetente Antworten liefern.

Durch AI haben die Systeme in den letzten Jahren große Sprünge nach vorne gemacht. Sie können Absichten des Kunden erkennen, den Kontext, aus dem er agiert, und, wenn sie richtig gut mit den Lager-, Finanz- und Service- oder CRM-Systemen integriert sind, auch personalisierte Antworten geben. Auch in der Dialogführung werden sie stetig besser.

Mittlerweile arbeiten bei vielen Herstellern Sprachwissenschaftler und Psychologen, die den Systemen die Eigenarten der menschlichen Kommunikation näherbringen. Der große Vorteil gegenüber den Menschen ist die Skalierbarkeit der Systeme. Auch einen Ansturm von mehreren Tausend Fragen binnen kürzester Zeit verarbeiten sie sofort. Beim Thema Erreichbarkeit können sie richtig punkten.

Ein Dreamteam wird aus den beiden Polen, wenn sie jeweils ihre Stärken ausspielen und wenn man die beiden als Duo auftreten lässt: die empathische Beratung zu den Gastarifen durch den Mitarbeiter und die zeitnahe Statusabfrage zur Lieferung beim Internetshop abends um 11.50 Uhr durch den Voicebot.
Dort, wo der Chatbot nicht weiterkommt, hilft der Mensch und klinkt sich in den Dialog ein, und dort, wo der Mensch nicht weiterkommt, hilft eine AI-Software, die in Millisekunden die passende Antwort für die exotische Kundenanfrage in einer Wissensdatenbank findet und dem Mitarbeiter anzeigt.

Menschen können komplexe, komplizierte Sachverhalte und Emotionen schneller erfassen und einordnen; die Systeme können dagegen sehr viel schneller benötigte Daten aus den diversen Systemen des Unternehmens finden und dem Kunden die entsprechenden Informationen geben.

Seit der Pandemie boomt der Service via Videos und AR

Es gibt noch weitere interessante Entwicklungen im Customer Service, die durch Corona befeuert wurden, bei denen sich die Kombination Mensch und System bewährt und zum Vorteil des Kunden agiert. Wie erklärt man beispielsweise einem Kunden am Telefon, wie sich der defekte Spülarm der Spülmaschine befestigen lässt? Wie man einen Router neu startet? Wie sich die Einstellungen am E-Auto so einstellen lassen, dass man an der Ladesäule den Schnellladegang starten kann? Einen Servicetechniker vorbeizuschicken ist teuer und oft unbefriedigend, weil der grundsätzlich das falsche Ersatzteil dabeihat; oder noch schlimmer: Das Problem sich auch ohne ihn hätte lösen lassen.

In der Pandemie, in der Kunden und Unternehmen gleichermaßen auf Distanz bedacht sind, feiert die Videoübertragung, die Anreicherung der Bilder mit Zusatzinformationen (Augmented Reality) einen raketenhaften Boom. Wenn Kunde und Mitarbeiter im Customer Service dasselbe sehen – den defekten Spülarm – und gleichzeitig darüber sprechen können und der Mitarbeiter Hinweise per Bildübertragung auf das Smartphone des Kunden geben kann, werden die Gespräche kürzer und führen schneller zur Lösung. Im B2B-Sektor ist diese Form des videogestützten Fernservices schon seit vielen Jahren gängige Praxis. Die Einweisung eines Maschinenführers vor Ort an einer Metallbearbeitungsmaschine in Bogota wird aus dem schwäbischen Eislingen per Video/Augmented Reality-Anwendung vorgenommen. Im B2C kommt diese Form des technologiegestützten Customer Services erst langsam in Schwung.

Guter Customer Service kommt in Zukunft fast immer auch mit Technologien daher, die den Customer Service verbessern. Bei Abertausenden von Bestellungen, Abfragen, Beschwerden, Statusabfragen, Wünschen und Kritik pro Stunde kann ein Unternehmen ohne eine gehörige Portion an Technologie den Wünschen nicht gerecht werden. Skalierbarkeit, Schnelligkeit und die Zusammenarbeit von Technik und den menschlichen Kollegen können die Wettbewerbssituation von Unternehmen verbessern – mit dem richtigen Blick auf das, was Kunden wollen und erwarten. Und auf das, was Technologie zu leisten vermag und wo ihre Grenzen sind.

Harald Henn ist Geschäftsführer von Marketing Resultant.

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