Wer es versteht, potenzielle Auftraggeber von seiner Expertise und seinem tiefen Kundenverständnis zu überzeugen, hat als Customer Care-Dienstleister enorme Chancen, zum echten Sparringspartner zu werden.
Dazu gilt es, erst mal Vertrauen aufzubauen, flexibel zu sein und die Old School-Denke abzulegen. Augenscheinlich gibt es auf diesen Gebieten alle Hände voll zu tun, denn viele potenzielle Auftraggeber scheinen nicht daran zu glauben, dass professionelle Dienstleister einen auch nur annähernd so guten Job machen könnten wie ihre Inhouse-Crew. Keine Frage: Die Digitalisierung sorgt für enorme Veränderungen im Customer Care-Markt. Und zwar nicht nur, weil sie neue Kommunikationskanäle gebiert und Dialoge transparenter, schneller, messbarer macht. Sondern auch, weil sie der Dienstleisterbranche eine neue, anspruchsvolle und – wenn es gut läuft – respektvolle und lukrative Kundschaft beschert: E-Commerce-Händler.
Wer online verkauft, ist in höchstem Maße auf einen hervorragenden Kundenservice angewiesen. Dass Produktqualität, Fulfillment und Logistik tadellos funktionieren, ist Grundvoraussetzung für den Erfolg im Web-Business. Das entscheidende Differenzierungsmerkmal aber ist der Service. Damit eröffnen sich aufgeschlossenen Customer Care- Anbietern enorme Chancen. „Es ist ein völlig neues Spiel“, sagt Christian Farwig, Leiter des Kundenservices von Mister Spex. Gut 2.000 Kunden melden sich täglich per Telefon, E-Mail oder Post bei den rund 80 Mitarbeitern von Europas führendem Online-Optiker. Das Service-Team besteht mehrheitlich aus Optikern und Optikermeistern, die ihren Job offenbar hervorragend erledigen: 2015 kürten das Deutsche Institut für Service-Qualität und der Nachrichtensender n-tv Mister Spex zu Deutschlands bestem Online-Shop in der Kategorie Augenoptik. Derzeit analysieren Farwig und sein Team sehr genau Kundenaufkommen, Anrufzeiten und Kanalfrequenz, denn das im Dezember 2007 gegründete Unternehmen will erstmals Teile seines Kundenservice auslagern. Und zwar nicht, um Kosten zu senken, sondern um die Öffnungszeiten von bislang montags bis freitags, 8 bis 20 Uhr, auszudehnen und dem Kunden mehr Kontaktkanäle anzubieten. Bei der Wahl des Dienstleisters geht es nicht um eine schnelle, billige, standardisierte Lösung, um Cost per Call und AHT. Das, so Farwig, sei Old School-Denken. „Als E-Commerce-Unternehmen haben wir nur zwei Gesichter zum Kunden: unsere Website und unseren Service. Also ist für uns eine hohe Servicequalität extrem wichtig.“ Deshalb sucht der Service-Chef jetzt nach einem Customer Care- Anbieter, der die Philosophie von Mister Spex versteht, der seine Mitarbeiter so gut behandelt, wie Mister Spex selbst seine Mitarbeiter behandelt, der höchste Qualität bietet und der weiß, dass der Verkauf von Brillen und Kontaktlinsen höchstes Vertrauen voraussetzt und keineswegs mit dem Liefern von Pizza zu vergleichen ist. Klar wird der Service-Anbieter nicht die fachliche Beratung bieten können, die die meist langjährigen Mister Spex-Experten offerieren. Aber er kann Fragen zu Rechnungen und Bestellungen abwickeln, Rückrufe anbieten und eben dafür sorgen, dass sich die Kunden so gut aufgehoben fühlen wie in einer Boutique.
Quelle: Mister Spex Sucht keinen Dienstleister, sondern einen Partner: CHRISTIAN FARWIG, Leiter des Kundenservice von Mister Spex
Der Kunde, so Farwigs Anspruch, soll keinen qualitativen Unterschied merken, wenn er mit dem Unternehmen selbst oder mit dem künftigen Dienstleister Kontakt aufnimmt. Christian Farwig ist guten Mutes, dass er genau diesen Anbieter finden wird: „Gerade von großen Dienstleistern gibt es viele Führungskräfte, die serviceorientierte Unternehmen ausgegründet haben. Ich brauche keinen Dienstleister, ich brauche einen Partner. Wir wollen diesem Partner die Luft und die Lust geben, für uns zu arbeiten.“ Dafür gelte es, flexible Bezahlmodelle zu entwickeln und sich langsam daran heranzutasten, wer welche Aufgaben bestmöglich übernehmen kann. Dass Mister Spex zu einer neuen Generation Auftraggeber zählt, zeigt auch die Bereitschaft, den Customer Care-Partner tief in die unternehmenseigenen Prozesse einzubinden. Vertrauen und Nähe sind Dreh- und Angelpunkt dieser Zusammenarbeit. Wer sich als Anbieter auf solche Anforderungen einstellt, ist für die Zukunft gut gerüstet: „Je tiefer diese Unternehmen in die Wertschöpfungskette des Kunden hineinkommen, desto mehr können sie verdienen und desto weniger austauschbar sind sie“, so Farwig.
So viel Vertrauen in die Customer Care-Branche hat längst nicht jeder Auftraggeber. Nachgefragt bei dem Online-Herrenausstatter Outfittery, ob das Unternehmen Services per Telefon, Mail, Facebook, Twitter oder Blog outsourct, kommt die kategorische Antwort: „Outfittery lagert seinen Service auf den oben genannten Kanälen nicht aus. Wir sehen uns als Service-Unternehmen. Service ist das Kernstück unseres Geschäftsmodells. Wir weisen ein hohes Service-Level auf, gerade weil der Service inhouse geführt und ausgesteuert wird.“
In der Tat ist das Geschäftsmodell hochgradig von einer guten Beratung abhängig: Männer beantworten zunächst auf der Outfittery- Website Fragen zu ihrem modischen Stil und ihren Maßen, dann nimmt eine Style-Expertin Kontakt zu ihnen auf und schickt ihnen schließlich auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Outfits. Was dem Kunden gefällt, das behält er, den Rest schickt er zurück. Wenn den mittlerweile 150 Style-Experten grobe Fehler in der Kommunikation unterlaufen, führt das sofort zu hohen Retourenquoten und, was auf lange Sicht noch schlimmer ist: zu unzufriedenen Kunden. Naturgemäß wird also bei Outfittery Kundenservice großgeschrieben, und zwar erklärtermaßen nicht nur bei den Mitarbeitern, die unmittelbaren Kundenkontakt haben: „Ziel ist es, dass die Verantwortung, unseren Kunden exzellenten Kundenservice zu bieten, nicht in einer Abteilung anfängt und aufhört, sondern dass sich ein kundenorientiertes Planen und Handeln über das ganze Unternehmen erstreckt“, erklärt Hoang-Cam Vu, Head of Customer Support bei Outfittery.
„Outfittery lagert seinen Service auf den oben genannten Kanälen nicht aus. Wir sehen uns als Service-Unternehmen. Service ist das Kernstück unseres Geschäftsmodells. Wir weisen ein hohes Service-Level auf, gerade weil der Service inhouse geführt und ausgesteuert wird.“
Während Mister Spex den Schritt in Richtung Service-Partner wagt, traut Modehändler Outfittery externen Dienstleistern offenbar nicht zu, dass sie mit Kunden so kommunizieren, wie er es selbst tut. Gleiches Misstrauen herrscht vielerorts bei Premiumanbietern jenseits des Online-Handels. Wenn es darum geht, dass Kunden und Interessenten besonders service- orientiert und vorzüglich behandelt werden sollen, gehen Unternehmen häufig lieber auf Nummer sicher und siedeln den Service inhouse an.
Zum Beispiel TUI Cruises, das Joint Venture der TUI AG mit dem Kreuzfahrtunternehmen Royal Caribbean Ltd., das die Mein Schiff Flotte über die Meere schickt. Andrea Kruse, Senior Head of Customer Services im Sales- Bereich von TUI Cruises, ist überzeugt: „Ein guter Kundenservice ist ein wichtiger Beitrag zur Qualität des Produkts und steuert auch die Erwartungshaltung des Kunden. Dies ist aus meiner Sicht für unsere Branche besonders relevant, denn das Produktinvolvement ist beim Urlaub und damit auch beim Kreuzfahrtprodukt sehr hoch.“
Setzt bewusst nur auf eigene Mitarbeiter: ANDREA KRUSE, Senior Head of Customer Services im Sales-Bereich von TUI Cruises Quelle TUI Cruises
Andrea Kruse führt die Teams der Reservierung im Front und Back Office sowie das Guest Feedback, ist also für die Kundenbetreuung vor, während und nach der Reise verantwortlich. Der Anspruch ist hoch, das erklärte Ziel lautet, aus Gästen Fans zu machen und deren Erwartungen nicht nur zufriedenzustellen, sondern zu übertreffen. Das funktioniert offenbar bestens, denn das im Jahr 2008 gegründete Unternehmen erzielt nach eigenen Angaben einen Wiederholeranteil von über 30 Prozent. Dass der Premium-Service inhouse erbracht wird, steht hier außer Frage; laut Andrea Kruse setzt TUI Cruises „im Kundenkontakt ausschließlich eigene Mitarbeiter ein, denn diese identifizieren sich stärker mit unserem Unternehmen und unserem Produkt und schaffen es, diese Emotionen in das Verkaufsgespräch zu übertragen. Dies strahlt positiv auf die Kundenbindung und schlussendlich die Qualität aus“.
So wie TUI Cruises agieren viele Unternehmen. Erst wenn es den Customer Care-Anbietern gelingt, das von Mister Spex- Service-Profi Christian Farwig angesprochene „neue Spiel“ mitzuspielen, also eine auf Kundenverständnis, Vertrauen, Fairness, Kompetenz sowie gleichen Zielen und Grundsätzen basierende Zusammenarbeit einzugehen, können sie hochgradig kundenorientierte Auftraggeber für sich gewinnen und sich damit gerade in Zeiten des E-Commerce interessante Geschäfte erschließen. Wenn Service das entscheidende Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb der Auftraggeber ist, dann ist das eine Riesenchance für alle Service-Anbieter, die ihr Geschäft tatsächlich verstehen.
ACHTUNG – KONKURRENZ AUS DER NACHBARSCHAFT!
Im Jahr 2013 gründete der Schweizer Manuel Grenacher, Jahrgang 1981, die Mila AG, für die er in kürzester Zeit drei Millionen Schweizer Franken Startkapital eingeworben hatte. Das Geschäftsmodell: ein digitales Nachbarschaftshilfe-Netzwerk. Man nennt es neudeutsch auch Crowdservicing, Crowd-Support oder auch Share Economy. Die offizielle Erklärung: „Mila ist ein Marktplatz, auf dem Nutzer Services in ihrer Nachbarschaft online finden, buchen und bewerten können. Unternehmen nutzen den Marktplatz, um eine Service-Community rund um ihre Produkte und Dienstleistungen aufzubauen oder ihr Serviceangebot zu erweitern.“
Die Idee ist so simpel wie bestechend: Viele Menschen kennen sich zum Beispiel gut mit bestimmten technischen Finessen rund um Telefon und Web aus. Sie können Computer einrichten und die WLAN-Reichweite erhöhen, TV-Geräte zum Laufen bringen und dafür sorgen, dass die Daten vom alten Smartphone auch auf dem neuen sind. Sie können also Dinge, die so manchen Menschen schwer zu schaffen machen, was wiederum dazu führt, dass sie in ihrer Hilflosigkeit bei Hotlines anrufen, vor deren Warteschleifen sie sich oft mehr fürchten, als dass sie schnelle Hilfe erwarten. Bei Mila können sich erstere als sogenannte Friends registrieren, letztere gucken einfach, ob solche Friends in ihrer Nachbarschaft wohnen. Dann vereinbaren die beiden einen Termin miteinander – zuhause, im Café oder wo auch immer; abends, frühmorgens, am Wochenende oder wann auch immer – und der Kunde bewertet hinterher auf dem Portal, wie zufrieden er mit der Leistung war. Den Preis verhandeln Endkunde und Friend individuell. Der durchschnittliche Auftragswert liegt derzeit bei 53 Schweizer Franken, Mila erhält je nach Zahlungsart acht bis zehn Prozent der Summe.
Copyright: Daniel Winkler www.mila.com Marc Werner (Leiter Geschäftsbereich Privatkunden, Swisscom), Urs Schaeppi (CEO, Swisscom) und Manuel Grenacher (Gründer und Verwaltungsratspräsident Mila)
Als Erstes hat die Swisscom, der führende Telekommunikationsanbieter der Schweiz, das Potenzial dieser Idee erkannt und bereits 2013 ein Pilotprojekt mit Mila gestartet. Damals sagte Marc Werner, Leiter Geschäftsbereich Privatkunden bei der Swisscom: „Unsere Kunden brauchen schnellen Support zu einem Zeitpunkt, der ihnen passt. Dank unserer Partnerschaft mit Mila können wir unseren Kunden einen zusätzlichen Support-Kanal für kleinere Probleme bieten, für deren Lösung keine hochtechnischen Fähigkeiten nötig sind.“ Vorteil für das Telko-Unternehmen: Es entstehen keine Kosten, die Kundenzufriedenheit steigt und das Customer Care-Center wird entlastet. Laut Grenacher ist diese Art des Services für Unternehmen mit großem Kundenkreis relevant, weshalb seine Zielbranchen neben Telekommunikationsanbietern auch Energieversorger und Händler sind.
PS: Kurz vor Redaktionsschluss kam die Nachricht, dass die Swisscom die Mehrheit an Mila übernommen hat. Damit, so eine offizielle Mitteilung, baue die Swisscom ihre Aktivitäten im Bereich Shared Economy weiter aus – man glaube, dass kollaborative Servicemodelle in Zukunft eine wichtige Rolle im Service spielen werden. Eine auf jeden Fall interessante Entwicklung, die auch bei deutschen Telekommunikationsanbietern und ihren Call Center-Dienstleistern auf Interesse stoßen dürfte. Vodafone Deutschland steht jedenfalls schon auf Milas Kundenliste. Und ein Büro in Berlin hat Mila auch.
Text: Vera Hermes
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