ERFAHRUNG – DIE STERBENDE WÄHRUNG

2020-11-27T17:24:49+01:0014. September 2016|Tags: , , , |

Die digitale Transformation stellt jahrzehntelang gültige Geschäftsmodelle, traditionelle Hierarchien und gelernte Arbeits- und Führungsstile infrage. Was zählt da noch Erfahrung?

Die Talentsuche nach den besten Mitarbeitern unterliegt Methoden, die sich in den letzten Jahrhunderten stets den gesellschaftlichen Anforderungen angepasst haben. Als es noch um Ackerbau und Kriegsführung ging, wurde nach den körperlich stärksten Talenten Ausschau gehalten. Mit Beginn der Industrialisierung wurden Wissen und Kompetenz zur gesuchten Währung. Der IQ (mathematische, analytische und logische Intelligenz) wurde mittels Tests und Prüfungen festgestellt. Mit Beginn des Informationszeitalters wuchs die Komplexität in den Märkten, und Unternehmen und Forscher befanden, dass nun der EQ – die emotionale Intelligenz – viel wichtiger sei. Assessments und Diagnostik sind nach wie vor die am häufigsten eingesetzten Methoden, diesen zu erheben. Als wichtigster Nachweis für Kompetenz gilt nach wie vor, dass ein Bewerber entsprechende Erfahrung mitbringt. Ich spreche nicht von Lebenserfahrung, sondern von Copy & Paste im Stellenprofil, frei nach dem Motto: Bitte bring Erfahrung mit aus genau meiner Branche und in genau dieser Funktion wie etwa Vertrieb, Marketing oder Customer Service. Und den Posten des Bereichsleiters besetzen wir am liebsten mit jemandem, der bereits Bereichsleiter war, und den des CEO am besten mit jemandem, der bereits CEO-Erfahrung gesammelt hat.

Ganz schwer tun sich Unternehmen beim Thema Führungserfahrung: Nur äußerst selten traut man einem Kandidaten ohne Führungserfahrung zu, dass er führen kann. Doch nun stehen wir angesichts der Digitalisierung an der Schwelle zur vierten Revolution. Copy & Paste gilt nicht mehr. Wie kann Mark Zuckerberg im Jahr 2009 mit gerade mal 25 Jahren zum Selfmade-Milliardär dank Facebook werden? Er ist doch viel zu jung (was gleichbedeutend ist mit: unerfahren). Wie hat es Matthias Müller als gelernter Werkzeugmacher und Informatiker seinerzeit zum Vorstandsvorsitzenden von Porsche (und heute von VW) geschafft? Ohne klassische CEO-Erfahrung? Und warum scheitern immer mehr Top-Manager mit Bilderbuch-Lebensläufen? Die Fluktuationsquote der Chefposten in den 300 größten Unternehmen der D-A-CH Region ist von zehn Prozent im Jahr 2014 auf 16,7 Prozent im Jahr 2015 gestiegen, meldet die Strategieberatung Strategy& von PwC.

Thomas Sattelberger, ehemals Personalvorstand der Telekom, erklärt in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, dass viele Geschäftsmodelle an Grenzen traditioneller Routinen stoßen und die Unternehmen völlig neue Wege einschlagen müssen: „Diese glattgebügelten Manager, die vor allem auf Ähnlichkeit getrimmt sind, werden das Thema nicht heben können.“ Er empfiehlt, Querdenker und Quereinsteiger zu beschäftigen und die Einstellungsentscheidung eben nicht dadurch abzusichern, dass der oder die Kandidat/in bereits Erfahrungen in der gewünschten Tätigkeit gemacht hat.

Auch beim Thema Führungserfahrung erheben sich Stimmen, die Führungserfahrung als Einstellungskriterium sogar als eher kontraproduktiv denn förderlich erachten. Die Wirtschaftspsychologen Uwe Peter Kanning und Philipp Fricke untersuchten im Jahr 2013 in einer empirischen Studie den Zusammenhang zwischen Führungserfahrung, Anzahl der geführten Mitarbeiter sowie Lebensalter und dem Abschneiden in einer Potenzialanalyse. An der Untersuchung nahmen 814 Personen im Alter von 25 Jahren bis 56 Jahren teil, gut ein Drittel verfügte über keinerlei Führungserfahrung. Das Ergebnis: Führungserfahrung spielt keine Rolle. Diejenigen, die bereits über Führungserfahrung verfügten, zeigten keine besseren Ergebnisse als Unerfahrene. Im Bereich der Führungsfähig- keit schnitten die Führungsanfänger sogar deutlich besser ab als die erfahrenen Führungskräfte.

Sicher: Es gibt Berufe, in denen Erfahrung wichtig und notwendig ist. Eine komplizierte Herz-OP lasse ich lieber von einem Arzt mit viel Erfahrung durchführen, und im Flugzeug vertraue ich auf einen Piloten mit umfangreicher Flugerfahrung. Ärzte oder Piloten erlangen in der ständigen Wiederholung in einem einigermaßen statischen Umfeld eine professionelle Routine. Genau dieses statische Umfeld finden wir in unserer Wirtschaft aber nicht mehr vor, im Gegenteil: Es ist hoch dynamisch. Routine ist hier nicht erwünscht und nicht gefragt. Wenn nun Erfahrung eine sterbende Währung ist und „neue Chefs“ für unser neues Zeitalter mit neuer Führungskultur gesucht werden – wo- nach suchen wir denn dann?


„Einer meiner größten Fehler war, Leute einzustellen, die augenscheinlich enorm erfahren waren.“


Die Antwort lautet: Potenzial. Also lautet die Frage nicht mehr: „Wer hat das schon gemacht?“, sondern: „Wer hat die Befähigung dazu?“ Dave Goldberg, der mit Launch Music als Vorgänger von Spotify & Co gilt, legte keinen Wert auf Lebensläufe. In seinem Talk auf der Ce- BIT 2015 erklärte er: „Einer meiner größten Fehler war, Leute einzustellen, die augenscheinlich enorm erfahren waren.“ Wichtiger als jahrelange Erfahrung seien Neugier und Offenheit. Sattelberger plädiert bei der Führungskräfteauswahl für Manager, die bereits in wilder See ohne Kompass navigiert haben. Mutig, entschlossen, furchtlos. In einem Briefing zu einer Vakanz sagte mir ein Geschäftsführer: „Ich lese keinen Lebenslauf. Aber ich nehme mir gern sechs Stunden Zeit, im Bewerbungsgespräch herauszufinden, wofür mein Gegenüber wirklich brennt und was ihn motiviert.“

Motivation, Entschlossenheit, Scharfblick, Offenheit, Neugier, Engagement, Flexibilität, Nahbarkeit, Unabhängigkeit, Unkompliziertheit, Bodenständigkeit, unprätentiös sein. Das sind die neuen Schlagworte in Suchprofilen für die Führungspositionen 4.0. Aus diesen Charaktereigenschaften lässt sich Potenzial für die erfolgreiche Bewältigung einer Aufgabe und Herausforderung ableiten. Nun sind wir es aber allesamt gewohnt, nach Kompetenzen zu suchen und nicht nach Potenzialen. Millionen Stellenbeschreibungen, auch XING und LinkedIn, Personaldatenbanken und unser Denken und Wording sind auf Kompetenzen ausgerichtet. Wir müssen also nicht nur Systeme und Prozesse umschreiben, sondern auch unsere Suchmethode. Natürlich wird es nicht ausreichen, wenn in Ihrer Datenbank nur ein zusätzliches Feld für „Entschlossenheit“ programmiert wird. Ich bin sogar der festen Überzeugung, dass bei dem Thema Potenzialsuche ein Feld beschritten wird, in dem Mensch Maschine schlägt. Denn die Potenzialanalyse, also die Übersetzungsfunktion von Charaktereigenschaften in die Umsetzungsbefähigung für eine komplexe Aufgabenstellung, setzt – zumindest aktuell – Menschenkenntnis voraus. Mir ist kein mathematischer Algorithmus bekannt, der das könnte.

Der bereits von mir zitierte Geschäftsführer macht es genau richtig: „Das Potenzial eines Bewerbers erkennen Sie nur durch ausführliche Gespräche und wenn Sie ein echtes Interesse an seiner beruflichen und persönlichen Lebensgeschichte haben.“ Zeit und eine moderne Gesprächsführung gehören dazu. Es geht nicht darum, katalogmäßig Kompetenzen abzufragen, sondern um einen ehrlichen Dialog, mit dem Ziel, sein Gegenüber kennenzulernen. Auf die Frage: „Sind Sie ein neugieriger Mensch?“ wird natürlich jeder mit „Ja“ antworten. Seien Sie besser neugierig auf alles, was keinen direkten Bezug zur Stellenkompetenz hat. Ein von mir betreuter Manager zum Beispiel lebt jobbedingt während der Woche in einem Wohnmobil statt in einem Hotel. Das zeigt mir seine Bodenständigkeit und Unabhängigkeit glaubhafter als jedes theoretische Bekenntnis. Welche Themen beschäftigen den Kandidaten neben seiner Arbeit? Danach lassen sich Neugier und Engagement allemal besser beurteilen.

Kurzum: Machen Sie sich ein Gesamtbild von einem Menschen. Vielleicht hilft es dabei tatsächlich, den Lebenslauf erst einmal nicht zu lesen.

Text: Iris Gordelik

 

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