
Bringen wir es doch gleich von Anfang an mal – etwas polemisch – auf den Punkt: Systemrelevanz erkennt man daran, dass es kein Homeoffice geben kann. Nur nicht-systemrelevante Tätigkeiten lassen sich auch vom Homeoffice aus erledigen. Zumindest gilt dies, solange das Homeoffice keinen Operationssaal hat und keine integrierte Kindertagesstätte. Von Notfallmedizinerinnen über Lokführer, den Teams im Supermarkt bis zum Lieferservice: Allen, die die Welt in den vergangenen zwölf Monaten als systemrelevant erkannt haben, ihnen Beifall klatschten und sie dann schnell wieder vergaßen, ist eines gemeinsam: Im Homeoffice arbeiten sie nicht.
Klar, wer in Lobbyismus oder Beratung, Journalismus oder Sachbearbeitung, Politik oder Management arbeitet, kann wunderbar von zu Hause arbeiten, kann von zu Hause an Talkshows teilnehmen und irgendwie dabei sein. Aber ehrlich: Wer ist wichtiger? Ein Berater – wie ich – oder die fleißigen Menschen der Müllabfuhr, die unseren enormen Zuwachs an Fertiggericht-Verpackungen und sonstigen Homeoffice-Müll entsorgen? Eine Managerin, die mit ihrem Controller eine Zoom-Konferenz für ein Kostensenkungsprogramm abhält, oder die Mitarbeiterin im Wasserwerk, die sich ums Trinkwasser kümmert?
Man könnte sagen: Alle, die in unwichtigen Berufen arbeiten, sollten ins Homeoffice, damit sie den wichtigen Leuten vom Handwerk, den ambulanten Pflegediensten oder Lehrkräften nicht den Weg zur Arbeit mit Staus verlängern und Abstand in den öffentlichen Verkehrsmitteln ermöglichen.
Nun, gehen wir es vielleicht doch etwas seriöser an:
Erste Berechnungen gehen davon aus, dass eine stattliche Minderheit von 30 bis 35 Prozent der Berufstätigen ihrer Arbeit theoretisch auch dezentral nachkommen kann.
Dauerhaft zu Hause oder nur ab und an? Ein großer Unterschied
Lassen Sie uns also mal einen Blick auf Chancen und Risiken der Tätigkeit zu Hause werfen. In einem Symposium, das die Hamburger Fern-Hochschule in Kooperation mit unserer Beratungsgesellschaft Ribbon durchführte, haben Juristen und Juristinnen sowie Mitglieder von Gewerkschaften einen feinen Unterschied zwischen dauerhaft im Homeoffice arbeitenden Berufstätigen und ab und an einen Homeoffice-Tag einlegenden Berufstätigen gemacht.
Die letztgenannte Gruppe ist einfach definiert: Bei ihr ist das sporadische Arbeiten im Homeoffice fast als Sozialleistung zu verstehen, denn sie arbeitet auch mal von zu Hause aus, um Beruf und Privatleben besser zu vereinbaren. Es ist Angestellten kaum zu vermitteln, dass sie, wenn sie mal einen systemrelevanten Facharzt- oder Handwerkertermin haben, gleich einen ganzen Tag Urlaub nehmen müssen, wenn sie die Arbeit auch von zu Hause aus erledigen können. Bei dieser Gruppe werden keine besonderen Anforderungen an Arbeitsplatzausstattung oder Ähnliches gestellt.
Für Menschen, die dauerhaft zu Hause arbeiten sollen, dürfen oder müssen, sieht es ganz anders aus: Während am Arbeitsplatz viel für die Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getan wird – von ergonomischen Stühlen über Anforderungen an Beleuchtung und Sicherheit –, ist dies beim Heimarbeitsplatz oft nicht der Fall. Trotz bereits bestehender, klarer Vorgaben des Gesetzgebers.
Effizient zu Hause, kreativ im Büro
Der große Praxistest des dauerhaften Homeoffice, der seit März 2020 in vielen Unternehmen an der Tagesordnung ist, zeigt klare Tendenzen: Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der ZEIT, sagt: „Ich bin sehr dankbar, dass fast alle hier in Hamburg wieder ins Büro gekommen sind. Ich glaube fest daran, dass Zeitungen im direkten Austausch zusammengequatscht werden müssen.“ Damit formuliert er eine Ansicht, die Soziologen und Pädagogen teilen. Kreativität entsteht durch direkte Interaktion in einer Gruppe, da sind Videokonferenzen und andere Kanäle nur der zweitbeste Weg. Die Tasse Kaffee im Türrahmen, der vermeintlich unproduktive Flurfunk sind Kreativitätsquellen, die sich von zu Hause aus nicht erschließen lassen.
Effizienz allerdings ist dank weniger Störquellen oft zu Hause besser zu organisieren (sofern die Schulen offen sind). Diese Binsenweisheit kennen viele Unternehmen und haben auch schon vor dem Homeoffice neben Großraumbüros Ruhearbeitsplätze eingerichtet. Dieser kann natürlich auch zu Hause sein.
Homeoffice macht dumm oder zumindest nicht schlauer
In diesem besonderen Winter 2020/2021 lautete eine kontrovers diskutierte Frage: „Müssen Schulen, Universitäten und andere Bildungseinrichtungen offen bleiben?“ Die Diskussionen in Politik, Gesellschaft und unter Betroffenen drehten sich fast ausschließlich um das Thema Ansteckungsrisiko. Alle waren sich einig, dass Schulen, Universitäten, Bibliotheken, die dazugehörigen Orte wie der Campus oder Methoden wie Teamarbeit oder Kleingruppendiskussionen für den Lernerfolg durch nichts zu ersetzen sind.
Dies war auch Konsens in Ländern, in denen digitaler Unterricht viel normaler ist. Wer denkt, sich in Oxford mit Studienkollegen auszutauschen, sei dasselbe wie eine Online-Stunde aus Oxford am Monitor in Erkelenz mitzuverfolgen, der hat schlicht keine Ahnung, wie Menschen lernen. Das Abschauen, wie es der Kollege oder die Kollegin macht, der kleine Tipp, wie es gehen könnte – das alles ist genauso wichtig wie die Lektüre eines dicken Buches. Selbst die OECD hat Deutschland dafür gelobt, dass es eine so hohe Priorität darauf gelegt hat, die Bildungseinrichtungen offen zu halten.
Warum nun ausgerechnet innerbetriebliches Lernen, anders organisiert, erfolgreicher laufen sollte, erschließt sich nicht.
Kommt nach dem Digital Divide der Homeoffice Divide?
Seit vielen Jahren wird der Digital Divide beklagt. Menschen mit Zugang zu moderner digitaler Infrastruktur sind besser informiert, haben eine größere Auswahl an Einkaufsmöglichkeiten, können einfacher mit anderen in Kontakt bleiben und so weiter.
Erste Erfahrungen in unserer Kundenservicebranche zeigen, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Homeoffice im Vergleich zu denen am Arbeitsplatz ganz unterschiedlich entwickeln.
Zwei Gründe sind relativ klar erkennbar:
- Angestellte, die im Unternehmen zum Mittelfeld und unteren Mittelfeld gehört haben, werden zu Hause schwächer. Dies liegt an weniger Führung und weniger Unterstützung durch die Führungskraft sowie an den selbstregulierenden Kräften eines Präsenzteams.
- Die Wohnverhältnisse beeinflussen die Leistung massiv. Wer in einer engen Stadtwohnung lebt, vielleicht noch Kinder hat, die noch nicht zur Schule gehen, findet weder den Platz noch die Ruhe, gut zu arbeiten. Umgekehrt gilt: Wer zu Hause Ruhe und Raum hat, ist produktiver.
Das Homeoffice ist also ein Karrieremacher oder -verhinderer. Die Spaltung der Gesellschaft, über die so oft gesprochen wird, wird von unausgereiften Homeoffice-Konzepten eher gefördert.
Homeoffice macht einsamer, insbesondere die Jüngeren
Eine Wirtschaft, die nach mobilen, jungen Fachkräften lechzt und in vielen Bereichen bereits an Boden verliert (IT- und Automobil-Industrie seien hier mal stellvertretend genannt), wird die jungen Leute nicht halten und integrieren können, wenn sie im Homeoffice arbeiten. Der Schmelztiegel Arbeitsplatz mit seinen verschiedenen Generationen, Nationen, Ansichten und Lebensmodellen wird erkalten. Stellen Sie sich nur ein kleines Beispiel vor: VW sucht weltweit 100 IT-Profis für seinen Standort Wolfsburg. Nun war Wolfsburg – mit allem Respekt – schon vor Corona nicht das Unterhaltungszentrum Europas. VW bittet die neuen internationalen Kolleginnen und Kollegen vom Flughafen Hannover ins Wolfsburger Homeoffice. Was soll dieser Mensch dort, wenn er auch einen Job im Silicon Valley, in Tokio oder Mailand haben kann? Wenn einen High Potential etwas anzieht, dann doch der Austausch mit seinesgleichen in spannenden Projekten. Klar, für die Ü50 mit einem stabilen Lebensumfeld und eingeschränkter beruflicher Mobilität (damit meine ich nicht Tagesreisen) ist das Homeoffice verlockend, für die Jungen, die die Zukunft bauen, nah an der Hölle.
Wie immer: Es kommt darauf an, wie es gemacht wird
Homeoffice kann, intelligent gemacht, eine Sozialleistung sein, sie kann Produktivität fördern und für bestimmte Zielgruppen attraktiv sein. Insbesondere bei „nur Homeoffice-Arbeitsplätzen“ sind die Risiken immens. Diese zu erkennen und Lösungen zu finden wird jetzt, wo durch ein absehbares Ende der Pandemie wieder Optionen entstehen, eine Aufgabe der Chefetage sein. Entscheiderinnen und Entscheider sind gut beraten, hier sehr sorgfältig hinzuschauen, abzuwägen und nicht dem Mainstream zu folgen.
Text: Thomas Hohlfeld