Ihr tickt wohl nicht mehr richtig!?

2020-11-27T17:52:42+01:0020. Februar 2013|Tags: , , , , |

 

Ach, was war es früher einfach, Zielgruppen zu erreichen: Kenntnisse über Alter und Geschlecht waren die halbe Miete der erfolgreichen Zielgruppenansprache. Wer im Fernsehen warb, erreichte fast alle; die gute alte Hörzu lag auf nahezu jedem Wohnzimmertisch und wer die Menschen persönlich ansprechen wollte, der kaufte sich einen Schwung Adressen und ließ ihnen ein Mailing in den Briefkasten werfen.

 

Auch sonst verhielt sich das Gros der Konsumenten schubladentauglich: Frauen kriegten ihre Kinder, bevor sie 30 Jahre alt waren, die Menschen gingen lebenslang ihrem gelernten Beruf nach, wer Mercedes fuhr, der wählte höchstwahrscheinlich konservativ, und wenn sich mal wer scheiden ließ, zog er nicht mit Sack und Pack los und gründete eine Patchwork-Familie. Die richtig Reichen machten Kreuzfahrtreisen, die anderen guckten „Traumschiff“ im ZDF. Statt Handys gab es Telefonzellen und wer 50 war, war alt und ließ sich von der Werbewirtschaft auch genauso adressieren.

 

Ob Lebensentwürfe, Konsumverhalten oder Medienlandschaft: Kaum noch etwas ist, wie es vor 20, 25 Jahren war. Diese Entwicklung treibt den Marketern der Republik den Schweiß auf die Stirn, denn sie haben es deutlich schwerer, ihre Botschaften kaufimpulsauslösend an die Konsumenten zu bringen. Und diese Entwicklung sorgt für jede Menge Arbeit bei den Marktforschern, zum Beispiel beim Sinus-Institut, das mit der Erfindung der Sinus-Milieus Ende der 70er Jahre erstmals die Lebenswelten der Konsumenten für die Zielgruppensegmentierung heranzog.

 

Die Sinus-Milieus gruppieren Menschen nach ihrer Lebensauffassung und Lebensweise und berücksichtigen dabei Wertorientierungen und Alltagseinstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Geld und Konsum. Weil sich die Gesellschaft wandelt, wandeln sich die Sinus- Milieus. Sie wurden zuletzt im Jahr 2010 aktualisiert. Dabei zeigte sich, dass zum Beispiel das alternative Milieu, das vor 20 Jahren noch klein und am Rand der Gesellschaft angesiedelt war, heute fest verankert und fast schon der „bürgerlichen Mitte“ zuzuordnen ist. Dort wo früher das alternative Milieu war, ist neu das „expeditive Milieu“ entstanden – eine junge urbane Boheme, sehr flexibel, extrem digitalisiert, stark businessorientiert. Die im Schnitt 29 Jahre alten Expeditiven suchen nach neuen wirtschaftlichen Werten; sie wissen, dass sie keinen Job mehr fürs Leben haben werden und finden es normal, sich permanent in neue Strukturen einzufinden. „Die packen oft ihre Kartons nicht aus, denn sie wissen nicht, wie lange sie an einem Ort bleiben“, charakterisiert Dr. Silke Borgstedt, Direktorin Sozialforschung am Sinus-Institut, diese Gruppe.

 

 

Zielgruppen haben sich schon immer gewandelt, ist die Forscherin überzeugt. Allerdings wohl nicht so stark wie in der jüngsten Vergangenheit. Fest definierbare Lebensphasen – zum Beispiel fürs Eltern werden – gibt es nicht mehr. „Die Lebensstile haben sich flexibilisiert“, sagt Silke Borgstedt. Heute herrscht zudem das Prinzip der Gegenwelten: Früher funktionierende Verknüpfungen à la „Wer Produkt X mag, der mag auch Produkt Y“ gelten nicht mehr. Die Menschen mixen Stile, Werte und Einstellungen, was es für Marketer unglaublich schwer macht, sie mit der für sie relevanten Botschaft anzusprechen. Allerdings, so gibt Silke Borgstedt Entwarnung, „ist es schon so, dass grundlegende Motivationen weiterhin bestehen und es Gruppen von Gleichgesinnten gibt“.

 

Was also tun? „Zielgruppen gibt es nicht mehr in Reinkultur“, sagt auch Professor Dr. Hans-Willi Schroiff – und er weiß wahrlich, wovon er spricht: Hans-Willi Schroiff ist Autor zahlreicher Publikationen zur Markt- und Meinungsforschung. Er war lange Jahre Vorstandsmitglied des Marketing Science Institute in Boston und hat verschiedene Aufsichtsratsfunktionen in Industrie- und Dienstleistungsunternehmen inne. Er lehrt unter anderem am Lehrstuhl für Marketing an der RWTH Aachen und an der London Business School im Bereich „Customer-Focused Marke- ting“. Und: Er verantwortete von 1998 bis 2012 als Corporate Vice President Market Research alle Marktforschungsaktivitäten des Konsumgüterherstellers Henkel in Düsseldorf.

 

„TV wird uns als Massenmedium nicht noch 20 Jahre erhalten bleiben.“

 

Hans-Willi Schroiff zählt also zur Marktforschungselite der Republik und er würde furchtbar gern für eine fein ziselierte Zielgruppensegmentierung plädieren, wenn … ja … wenn er es nicht aus der Praxis besser wüsste: „Wir haben bei Henkel eine Reihe von Typologien durchprobiert. Ganz ehrlich – und das mag an der Produktgruppe liegen –, ich kann von keinem durchschlagenden Erfolg berichten, dass ein Produkt, das wir auf eine bestimmte Zielgruppe ausgerichtet haben, in dieser Zielgruppe überproportional erfolgreich war. Entweder waren wir über verschiedene Zielgruppen hinweg erfolgreich oder es hat bei keiner Zielgruppe geklappt.“

 

Also ist eine Ansprache speziell definierter Konsumentengruppen für FMCG- Konzerne schlicht Kokolores? „Als Professor würde ich sagen: Das muss doch möglich sein! Der praktische Nutzen ist aber sehr begrenzt und wenn man in die Niederungen des Tagesgeschäfts hinuntersteigt, dann lässt man das sehr schnell, denn es lohnt sich nicht: Kleinere Zielgruppen bedeuten weniger Ertrag bei höheren Vermarktungskosten – das ist gegen den genetischen Code eines Unternehmens und dem Controlling nicht zu erklären“, antwortet Marktforschungsprofi Schroiff. „Fast Moving Consumer Goods“ müssen ihrem Namen alle Ehre machen und sich schnell drehen – und das tun sie nur dann, wenn sie von vielen Menschen gekauft werden und nicht von kleinen Gruppen. Aus diesem Grunde versuchen Konsumgüterhersteller in der Regel Produkte auf den Markt zu bringen, die sie für mehrheitsfähig halten, wobei „mehrheitsfähig“ mindestens 20 Prozent der Grundgesamtheit meint.

 

Dass sich die Konzerne beim Launch neuer Produkte nicht auf die Aussagen ihrer potenziellen Kunden verlassen können, belegt die enorm hohe Floprate. Obwohl vor jeder Neuentwicklung befragt, geforscht und getestet wird, was das Zeug hält, bleiben später häufig selbst Produkte, die bei Kundenbefragungen auf Begeisterung stoßen, wie Blei in den Regalen liegen. Warum? Weil Menschen wankelmütige Wesen sind und oft anders handeln als sie ankündigen. Das passiert zum Beispiel gern, wenn es um den Konsum von ökologisch einwandfreien oder fair gehandelten Produkten geht. Wenn es dann zum Schwur kommt und die Kunden vor dem Supermarktregal die Wahl zwischen „total korrekt“ und „billig“ haben, greifen sie entgegen ihren Aussagen eben doch zum günstigen Produkt. Vielleicht. Die Zielgruppe ist keine verlässliche Größe.

 

Dr. Silke Borgstedt

 

Mal abgesehen davon, dass Menschen nicht unbedingt tun, was sie sagen und dass sie sich insgesamt nicht mehr in schön gleich getaktete große Gruppen einteilen lassen, hat sich außerdem ihr Umgang mit Werbung verändert. Für Silke Borgstedt sind es vor allem drei Aspekte, die diesen Umgang beeinflussen:

 

Die Konsumenten sind schnell: Es gibt immer mehr Aufmerksamkeitsfänger. Menschen bewegen sich immer schneller in immer mehr Kanälen. Es ist einfacher geworden, umzuschalten, weg zu switchen, auszublenden.

 

Die Konsumenten sind aufgeklärt: Früher hieß es schon mal „Das kaufe ich, denn das ist in der Werbung doch so gelobt worden“. Heute lernen Kinder schon in der Schule, wie Werbung funktioniert. Konsumenten sind selbstbewusst und kennen sich gut aus, sie wissen, dass sie eine „Zielgruppe“ sind. Und sie wissen immer mehr darüber, was ein Produkt kann und wer es wo unter welchen Bedingungen herstellt.

 

Konsumenten wollen mitmachen: Menschen wollen sich beteiligen. Doch Mitgestalten kann viele Effekte haben. Wenn Unternehmen nicht authentisch kommunizieren oder nichts zu sagen haben, werden die Leute ungnädig.

 

Ungnädig werden die Konsumenten auch, wenn sie sich gestört fühlen. Von Werbung zum Beispiel. Weshalb die Werbewirkung nachlässt. Da hilft es auch rein gar nichts, wenn die Werbetreibenden ihr Bestes geben, um haargenau die vermeintlichen Bedürfnisse ihrer Zielgruppe zu treffen.

 

Dass das nicht funktioniert, zeigt die Online-Werbung: Während Web-Marketer von den großartigen Möglichkeiten der in Echtzeit ausgesteuerten verhaltensbasierten Werbung schwärmen, reden die User vom „Targeting- Stalking“.

 

Exakte Zielgruppenansprache hin oder her: Es fällt den Menschen einfach ungeheuer auf die Nerven, wenn ihnen der einmal angeklickte Zalando-Schuh, der Rheingau-Winzer oder Reiseanbieter noch Tage und Wochen mit Werbe-Bannern verfolgt. Selbst wer sich für Schuhe, Wein und Karibik-Trips interessiert, dem ist diese Form der ach so relevanten Ansprache über kurz oder lang zu viel. Die Konsequenz: Die Banner-Klickraten befinden sich tief im Keller. „Wenn es einen Beweis gäbe für den Erfolg von zielgruppenspezifischem Targeting – dessen Erfolg replizierbar ist – wäre es das Beste, was dem Marketing passieren könnte“, sagt Hans- Willi Schroiff. Seiner Erfahrung nach ist es mit dem Targeting bei weitem nicht so weit her, wie kolportiert wird. So gebe es keine expliziten Nachweise, wie die Werbung in einzelnen Medien oder Kanälen tatsächlich auf die Zielgruppe wirkt. „Natürlich wissen wir, dass 12- bis 30-Jährige onlineaffin sind, aber die gucken auch noch TV. Werbetreibende wie Henkel bewegen sich im Massenmarkt und müssen das Gros erreichen. Und natürlich könnten wir uns zu Tode optimieren, aber wir haben uns dafür entschieden, die Gießkanne zu nehmen: Mit Persil und anderen Marken müssen Sie omnipräsent sein und deshalb haben wir auf TV und Prime Time gesetzt. Da haben wir unter dem Strich die größte Wahrscheinlichkeit, jemanden zu treffen.“

 

Klar, dass diese Strategie zu Streuverlusten führt – die allerdings rechnen sich für große Werbetreibende locker, denn die Fernsehsender bieten ihnen immense Rabatte. Doch genauso wie die Auflagen der Print-Massenmedien kontinuierlich sinken, sind auch die Tage gezählt, an denen sich viele Menschen über TV-Spots erreichen lassen: „TV wird uns als Massenmedium nicht noch 20 Jahre erhalten bleiben“, ist Hans-Willi Schroiff überzeugt. So wie sich heute Musik über den Musik-Streaming-Dienst Spotify oder iTunes selbst bestimmt konsumieren lässt, werden sich die Konsumenten in nicht allzu ferner Zukunft ihr persönliches Fernsehprogramm über Playlists zusammenstellen.

vernetzt-magazin, ausgabe 7, zielgruppen, ihr tickt wohl nicht mehr richtig, schroiff

 

Dabei sind zwei Finanzierungsvarianten denkbar: Entweder der Konsument zahlt die Sendungen im Abo oder er akzeptiert Werbung. Damit wäre zwar das Massenmedium TV tot, gleichzeitig ergäben sich aber Chancen für eine gezielte Ansprache kleinerer Zielgruppen, die sich über die Zusammenstellung ihrer Playlists quasi selbst selektieren – frei nach dem Motto: ‚Sag mir, welche Filme du siehst und ich sage dir, wer du bist.‘

 

Trifft tatsächlich zu, dass sich die Massenmedien zu kleineren Einheiten wandeln, werden sich auch große Werbetreibende damit befassen müssen, wie und wo sie ihre Zielgruppen erreichen. Da hilft nur eines: Marketer müssen näher an ihre Zielgruppen heranrücken – was nicht heißt, ihnen erstens alles zu glauben (siehe Kundenbefragungen) und ihnen zweitens auf die Pelle zu rücken (siehe Targeting- Stalking). Die Sache wird also schwierig und anstrengend.

Karl Georg Musiol, bis Herbst 2012 Präsident des Deutschen Marketing-Verbandes (DMV), plädierte in der Oktoberausgabe der absatzwirtschaft dafür, „dass man seine Zielgruppe nicht als eine anonyme Datenmenge versteht, die in Excel-Charts wohnt. Vielmehr müssen wir wieder den Menschen in den Daten erkennen. Wir müssen verstehen, welche Rolle unsere Angebote und unsere Marken im Leben unserer Kunden spielen. Die Fähigkeit zur Empathie ist dabei ein sehr guter Begleiter.“ Dabei dürfte hilfreich sein, die Zielgruppe nicht nur auf jene Verhaltensweisen, Einstellungen und Konsumvorlieben zu reduzieren, die für die anstehende Werbebotschaft relevant sind. Wer sich nur dafür interessiert, wie sich jemand wäscht, welche Zigaretten er raucht oder wie er seine Urlaube gestaltet, dem entgehen mitunter wichtige Informationen.

 

Marktforscherin Silke Borgstedt empfiehlt allen Marketern, sich den „ganzen Menschen“ anzusehen und ihn nicht nur zu befragen, sondern im Alltag zu begleiten – was durch neue Marktforschungsmethoden deutlich einfacher ist als früher. So lässt sich beispielsweise das Kaufverhalten im Internet bestens nachvollziehen. „Es geht darum, sich genauer mit den Motivationen für bestimmte Handlungen auseinanderzusetzen und genauer zu verstehen, warum bestimmte Angebote funktionieren und andere nicht.“ Silke Borgstedt appelliert an Marketer trotz des enormen Erfolgsdrucks, wieder mehr Mut zu haben, etwas auszuprobieren, wieder mehr der eigenen Intuition zu trauen statt alles und jedes zu Tode zu testen und sich mehr Zeit zu nehmen, sich in die Zielgruppen hineinzuversetzen. Denn wer genau lauscht, der hört vielleicht, wie sie ticken, all die Zielgruppen da draußen.

von Vera Hermes

 

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