Ihr wollt es ja nicht anders

2020-12-20T13:58:41+01:0023. September 2019|Tags: , , , , , |
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Es gab vor einiger Zeit in einer Hamburger Tageszeitung einen wunderschönen Bericht, in dem beschrieben wurde, wie sich Fußgänger vor einer roten Ampel verhalten. Die erste Gruppe, nur Erwachsene: Sie entscheiden selbst, wann sie rübergehen. Die Farbe der Ampel war mehr ein Diskussionsbeitrag als eine Verkehrsregel. Die zweite Gruppe gemischt, Erwachsene und Kinder: Alle blieben stehen, warteten brav und waren Vorbilder. Die dritte Gruppe, nur Kinder: Die verhielt sich wie die erste Gruppe, wartete nicht, sondern ging, wenn es frei war.

 

Drei Dinge konnte man daraus ableiten:

 

  1. Man weiß, was erwartet wird.
  2. Wenn man die Freiheit hat zu entscheiden, tut man, was man will.
  3. Die Erwachsenen hatten mehr Einfluss als die Farbe der Ampel.

 

So ist das auch mit den Lebensläufen. Die Bewerber – insbesondere die begehrten jüngeren Kandidaten – schreiben die Lebensläufe, die von ihnen erwartet werden. Sie recherchieren im Netz, was HR-Abteilungen mögen, sie recherchieren über das Unternehmen und leiten ab, was wohl eine angemessene Ansprache ist. Sie diskutieren im Freundes- und Familienkreis, was man wohl reinschreibt und was man besser weglässt (Unvollständigkeit ist etwas anderes als falsche Angaben). Man lässt es dann noch von Rechtschreibprogrammen und Freunden Korrektur lesen und kommt dann zum Foto. Das wird so lange bearbeitet – mit allen Künsten der Technik – bis man so aussieht, wie man gerne aussehen würde, aber nicht aussieht. Im Laufe dieses Prozesses wird aus dem CV und dem Anschreiben ein kleines Kunstwerk, das nicht mehr viel über die Person sagt, aber echt gut geworden ist.

 

Wer bereits etwas höher in der Hierarchie aufgestiegen ist, bekommt einen professionellen Personalberater an die Seite, der den Prozess unterstützt. Dann, wenn man noch einen geeigneten Rahmen (die Bewerbungsmappe) gefunden hat, (kleiner Tipp: Plastik ist zunehmend verpönt) und sich Gedanken über das Motiv der Briefmarke gemacht hat, geht das Gesamtkunstwerk zum Empfänger. Dort weiß man natürlich, dass der Bewerber in der Regel anders aussieht als auf dem Foto. Dass wenn ein Abitur nur genannt wird, aber keine Note dabeisteht, es wohl nicht so dolle war. Dass, wenn als Hobbys Schachspielen, Freunde, Familie, Reisen steht, kein Modellathlet für harte Arbeit zu erwarten ist, und dass zwischen Gap Year, drei Praktika und dem „dann-doch noch- den-Master-gemacht“, wohl eher das Selbstfinden vor der Karriere stand. Aber egal, hübsche Mappe, gutes Foto.

 

Man ist als Autor dieses Artikels fast ein bisschen traurig, wenn man diesem liebgewordenen Ritual keine Zukunft vorhersagen kann. Denn am Ende weiß man nichts. So wenig wie die Eltern wissen, was ihre Kinder an der Ampel tun, wenn sie nicht dabei sind. Die wichtigen Eigenschaften, die für Unternehmen relevant sind – intrinsische Motivation, Selbstreflektion, von mir aus auch das immer gern genommene Wort der letzten Jahre: Agilität – sind glatt beim Gestalten des Kunstwerks Bewerbung/ Lebenslauf auf der Strecke geblieben. Was für eine Zeit- und Ressourcenverschwendung. Der Entscheider weiß leider nichts Relevantes.

 

Zum Beispiel: Ist das Sprachbild von Frau Lee (häufigster Nachname der Welt) wirklich schlechter als von Herrn Müller (häufigster Nachname in Deutschland)? Ist Kevin aus Liebon (kleinstes Dorf in Sachsen) wirklich ungeeigneter als Alexander Freiherr von XY aus München (größte Stadt in Bayern)?

 

Ich wage mal eine Prognose: Wenn die „vernetzt!“ ihr 20-Jähriges feiert, werden wir „Lebensläufe“ allenfalls als aussterbenden Begriff von älteren Personalern hören, so wie die jungen Leute das Wort „Testbild“ im Fernsehen nicht mehr kennen werden. Das Matching wird in beide Richtungen erfolgen, Firmen werden mit aufwendigen Algorithmen Kandidaten suchen und mit diesen Kontakt aufnehmen. Und die Kandidaten werden sich auf sehr einfachen Seiten kurz vorstellen, auch für höhere Funktionen, und direkt danach beginnt der gute alte Dialog zwischen Unternehmen und Kandidat oder Kandidatin. Auf der einen Seite sitzen Bewerber, die sich ihres Wertes bewusst sind, auf der anderen Seite viel besser als heute ausgebildete Kommunikationsprofi s, die im Dialog die Kandidaten informieren. Man wird gemeinsam feststellen, ob man zueinander passt oder nicht.

 

Am ehesten wird der Executive Search noch Bestand haben, denn in diesen Etagen spielen Diskretion und auch Standesbewusstsein noch eine entscheidende Rolle. Man könnte jetzt gleich die Fortsetzung dieses Artikels schreiben, denn so wie zurzeit die Karriere in der Bewerbungsphase modelliert wird, so endet sie in den Unternehmen beim Austritt auch. Denn Zeugnisse sind genauso aussagekräftig wie die Bewerbungsmappen. Aber das ist ein anderes Thema, es hat nur eins gemeinsam: „Ihr wollt es ja nicht anders.“

 


 

Autor: Thomas Hohlfeld

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