
Karrieren verlaufen heute anders als früher. Gern darf es auch mal ein Schritt zur Seite statt nur steil nach oben sein. So zumindest der Wunsch.
Das Zitat „Ein Hamsterrad sieht von innen aus wie eine Karriereleiter“ kennt wohl jeder. Mühsam klettert man Stufe um Stufe hinauf. Vom Agenten zum Agenten mit Sonderaufgaben zum Junior Teamleiter zum Teamleiter zum Senior Teamleiter zum stellvertretenden Projektleiter zum Abteilungsleiter zum Bereichsleiter und so weiter und so weiter. Stets der sehnsüchtige Blick nach oben, wo „man jemand ist“ und über Geld, Macht und Status verfügt. Definiert über die Position im Organigramm und die Anzahl der Leute unter sich. Die klassische Schornsteinkarriere, wie sie immer noch am häufigsten gelebt, vorgelebt, betitelt und verstanden wird.
Wer sich damit nicht identifiziert und dennoch einen Beruf ausüben möchte, der ihm Spaß macht und seinem Bild von Karriere entspricht, der hat es nicht leicht. Dennis K. bewirbt sich bei einem Nahrungsmittelkonzern als Consumer Experience Manager für die Sparte Kaffee. Er liebt Kaffee, zelebriert die Kaffeekultur privat sogar in seinem eigenen Blog. Sein jetziger Job als Call Center-Leiter für einen Energieversorger stresst ihn und auf Führung hat er auch keine Lust mehr. Doch das Bewerbungsgespräch läuft gar nicht gut. Die Personalreferentin hinterfragt kritisch, ob er wohl Probleme mit Menschen hat, weil er keine Führungsverantwortung mehr haben will. Der fachliche Vorgesetzte sieht den vermeintlichen Abstieg und will unbedingt herausfinden, wo der Kandidat wohl Dreck am Stecken hat. Weder das eine noch das andere stimmt, dennoch bekommt er eine Absage. Das Misstrauen überwiegt.
Ein beruflicher Schritt zur Seite oder gar nach unten ist immer noch verpönt. Wenn damit sogar noch eine Gehaltverringerung verbunden ist, dann ist er quasi aussichtslos. Die Unternehmen sind sich sicher, dass der Kandidat beim nächsten, höheren Jobangebot wieder weg ist. Geld, Macht und Status – es hat sich in den Köpfen nichts geändert. Es sind allenfalls kleinere, fast immer inhabergeführte Unternehmen, die Dennis K. einstellen würden. Solche Firmen bauen sogar oft ihre Organisation um Mitarbeiter herum. Wenn man das richtig macht, ist es ein echtes Erfolgsmodell und im Wesentlichen der eigentliche Grundgedanke von „agil“.
Die Herausforderung dabei: Die Mitarbeiter müssen erst einmal wissen, wer sie sind, was sie gern tun und können und machen wollen. Die meisten wissen es aber nicht. Und Unternehmen würden gut daran tun, ihren Mitarbeitern bei dieser wichtigen Reise zu helfen. Ein für mich sehr hilfreiches Instrument ist die Diagnostik. Mittels wissenschaftlicher Tests erhebt man Handlungs- und Motivationskompetenzen. Mit dem Ergebnis begleitet man den Mitarbeiter durch Aufgabenbereiche im Unternehmen, um festzustellen, wo genau seine Kompetenz am meisten gebraucht wird. In solchen Projekten bin ich selbst immer wieder erstaunt, wie viele Menschen auf falschen Posten sitzen.
Jemand, der zum Expertentum berufen ist, sitzt auf einem Stuhl für Generalisten. Der Tüftler und akribische Lösungssucher, der am liebsten bei sich ist, hat eine große Mannschaft zu motivieren. Wie viel glücklicher und für die Firma wirksamer könnten diese Menschen in passenderen Aufgaben sein? Den Mehrgewinn an Loyalität und positivem Arbeitgeberimage noch gar nicht mit eingerechnet.
Karriere ist heute nicht mehr Geld-Macht-Status, sondern das Maß an erfolgreicher Selbstverwirklichung. Und das ist immer individuell und geht immer zuerst vom Menschen aus. Schon allein damit rütteln wir an den Grundmauern der Personalabteilungen, die ja nur gelernt haben, dass die Anforderungen vom Unternehmen gestellt werden. Da müssen Stellenbeschreibungen erfüllt und Orga-Kästchen befüllt werden – und das bitte brav von unten nach oben.
Eigentlich kennen wir diese notwendige Umkehrung der Machtverhältnisse doch bereits aus dem Kundenmanagement: Niemand hat heute mehr Zweifel daran, dass der Kunde die Macht hat. Bei Mitarbeitern scheint sich diese Erkenntnis nur sehr zögerlich durchzusetzen. Es wird wirklich Zeit für ein modernes Kletterwand-Management in Unternehmen. Dazu gehört zum einen sicher eine Methodik wie die Diagnostik, um seinen Mitarbeitern zu helfen, den richtigen Platz zu finden. Dazu gehört vor allem aber auch eine Kletterwand-Kultur. Stereotype Karrierebilder, Titel und Werdegänge müssen raus den Köpfen und durch Erfolg bei der Selbstfindung ersetzt werden.
Zum Abschluss noch eine Erkenntnis aus meiner Beratungspraxis, die Unternehmen gefallen wird: In einer Zeit, wo alle nach oben streben, hat man immer das Problem von zu vielen Häuptlingen und zu wenigen Indianern. Das führt zu Platzproblemen und zu Fluktuation. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass eine Menge Häuptlinge viel lieber Indianer wären. Aber solange Indianersein nichts Besonderes ist, mag sich das niemand wünschen. Es lohnt sich also, dem Indianersein mehr Wert und Bedeutung eben. Dann klappt es auch mit dem Platz und der Mitarbeiterzufriedenheit.
Autor: Iris Gordelik