Lunch is for losers? Von wegen!

2021-10-02T16:23:56+02:0023. September 2021|Tags: , , , , |

Erst war alles gut. Dann haben wir übertrieben. Warum das altbekannte Karrierestreben ausgedient hat. Und wieso es ein Privileg ist, auf Karriere zu verzichten.

„Zeit“ zählt heute zu den wichtigsten Statussymbolen. Zumindest unter denen, die in Büros ihr Geld verdienen, den sogenannten Wissensarbeiterinnen und -arbeitern. Wobei „Büro“ ja auch schon perdu ist – geschafft hat es heute in den Augen vieler der- oder diejenige, die erstens über ihre Zeit frei verfügen kann und zweitens, wenn sie arbeitet, dies von ihrem Homeoffice aus tut.

Der große Dienstwagen, im Idealfall mit gekennzeichnetem Parkplatz, das Eckbüro, die teure Uhr, die Vorzimmerdame, das sechsstellige Gehalt, der Respekt einflößende Titel auf der Visitenkarte – all diese Insignien einer gelungenen Karriere, sie taugen mittlerweile in manchen Kreisen nur mehr für eine etwas überhebliche Spielart von Mitleid. Entweder von denen, die das alles schon mal hatten und sich nun mehr oder weniger saturiert von den klassischen Karrierepfaden abwenden. Oder von jungen Leuten, die – sorry fürs Klischee – zeitlebens gepampert und gut ausgebildet lieber einen anderen Weg einschlagen als die von ihren Eltern und Großeltern vorgelebte Ochsentour durch die Hierarchie eines Unternehmens an dessen Spitze.

Voraussetzung also, eine klassische Karriere abzulehnen, ist in der Regel eine gewisse Freiheit von wirtschaftlichen Zwängen. Entweder weil das Geld schon verdient ist. Oder weil noch keine größeren finanziellen Verpflichtungen bestehen und man auf die Dinge, die diese Verpflichtungen nun mal nach sich ziehen, auch gern verzichtet.

Irgendwann sind wir mal falsch abgebogen

Beide Gruppen haben durchaus recht mit ihrer Abneigung gegen die traditionelle Karriere. Denn irgendwann ist etwas mit ihr furchtbar schiefgelaufen. „Leistung lohnt sich“, „Qualität kommt von Qual“, „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ – das waren früher feste Gewissheiten. Wer fleißig war und gute Arbeit ablieferte, durfte damit rechnen, dass er über die Jahre in immer höhere Posten mit immer mehr Gehalt und mehr Verantwortung befördert würde. Oft verliefen diese Karrieren in ein und demselben Unternehmen.

Man zog nicht für Jobs mit Sack und Pack durch die Nation. Man führte auch keine Fernbeziehungen, weil die Arbeit nun mal in einer anderen Stadt war. Und, ja, den Generationen vor uns verdanken wir unseren Wohlstand, sie haben sehr viel gearbeitet. Aber nicht 24/7 mit digitaler Leibeigenschaft. Und, ja, Männer in Führungspositionen (Frauen waren ja in der Regel nicht dort) starben mitunter an ihrem Schreibtisch am Herzinfarkt. Sie waren die ersten Stressopfer. Aber grundsätzlich galt auch für Männer mit Karrieren: „Am Samstag gehört Papi mir“. Und wenn Urlaub war, war Urlaub.

Was hat’s gebracht?

Artikel wie „Ich will nie wieder Vollzeit arbeiten“ (DIE ZEIT) oder „Aufsteigen zur Führungskraft: Das tu ich mir nicht an“ nebst Tipps für das „Vielen Dank, aber nein danke-Gespräch“ (Spiegel Online) hätten bei unseren Altvorderen ungläubiges Erstaunen ausgelöst.

Seit den 80er/90ern zog mit der Digitalisierung und Globalisierung die Schraube an. Ebenso wie die Gehälter in Toppositionen. Viel Arbeit, Durch-die-Gegend-jetten und jede Menge Stress wurden zu Nachweisen der eigenen Wichtigkeit. „Work hard – play hard“ lautete das Credo, Karriere machen war anstrengend, aber auch ein Spaß, „Lunch is for losers“ – wer nicht mithalten konnte oder wollte, war raus, the sky is the limit.

Was hat’s gebracht? Kaputte Menschen und einen kaputten Planeten.

Die Karriere verliert an Bedeutung

Für das Vor-Corona-Jahr 2019 meldete die AOK 5,9 Arbeitsunfähigkeitsfälle je 1.000 Mitglieder wegen einer Burn-out-Diagnose – diese Diagnose wurde annähernd doppelt so häufig gestellt wie noch ein Jahrzehnt zuvor. Statista meldet: „Hochgerechnet auf alle gesetzlich krankenversicherten Beschäftigten ergeben sich daraus für 2019 rund 185.000 Burn-out-Betroffene mit kulminierten 4,3 Millionen Krankheitstagen.“ … Und hier sind die privat Versicherten noch gar nicht mitgezählt.

Verglichen mit unseren Großeltern und Eltern genießen wir einen höheren Wohlstand, sind im Schnitt gesünder, haben deutlich mehr Freizeit – und sind in eine Situation geschliddert, in der viele Menschen ihre Arbeit unglücklich und krank macht. Kein Wunder, dass die klassische Karriere für viele nicht mehr erstrebenswert ist.

Corona gab der Entwicklung zusätzlichen Schwung: Die Karriere wird den Menschen in Deutschland seit der Pandemie immer unwichtiger, meldet Reader’s Digest in seiner aktuellen Trusted Brand Studie 2021. Der Wille, Karriere zu machen, habe deutlich abgenommen, heißt es in der Studie. Im Pandemie-Jahr sei der berufliche Erfolg nur noch für 39 Prozent der Erwachsenen ab 18 Jahre wichtig, vor fünf Jahren galt das noch für knapp die Hälfte der Bevölkerung (46 Prozent).

Interessant sind die Unterschiede je nach Alter: Während in der Generation Z (18–25 Jahre) zwei Drittel die Karriere wichtig finden, sind es in der Generation Y (26–39 Jahre) nur noch die Hälfte und ab einem Alter von 40 bis 59 Jahren ist die Karriere nur noch für ein Drittel von Bedeutung – auch da hätten unsere Eltern groß geguckt.

Ist Schafe hüten eine gute Alternative?

Dem Phänomen, dass immer mehr Menschen immer früher davon sprechen, Schafherden zu hüten, eigene Landwirtschaft zu betreiben oder sonstwie aus ihrem urbanen Berufsleben auszusteigen, widmete DIE ZEIT unlängst den lesenswerten (und unterhaltsamen) Artikel „Generation X: Die Frühstrentner“. Das Resümee des Autors: „Wer heute wie ich 47 Jahre alt ist, kann sich ausrechnen, dass er mit etwas Glück noch mal 47 Jahre hat. Die Begriffe Downshifting und Work-Life-Balance tauchten in Deutschland zum allerersten Mal um die Jahrtausendwende auf, in der Zeit der New Economy, 20 Jahre ist das her. Gemeint war mit Work-Life-Balance zumeist, dass mehr life der work echt guttun würde. Und mit Downshiften, dem Runterschalten, dass man eigentlich weniger arbeiten müsste. Nun, 20 Jahre später, macht man es wirklich.“
Ob das alles so gut und richtig ist mit dem, so schreibt der Autor, „rentnermäßigen“ Leben, bleibt offen – klar ist: Es ist ein Privileg, frei zu entscheiden, ob und wie viel man arbeitet und auf eine Karriere zu pfeifen.

Und diejenigen, die gern Karriere machen möchten? Die legen immer häufiger auch keinen Wert mehr auf Dienstwagen, Titel und Einzelbüro. Sondern auf eine sinnvolle Arbeit, auf Entwicklungsmöglichkeiten und Selbstverantwortung. Und das ist nach „Work hard – play hard“ eine richtig gute Nachricht für alle Beteiligten.

Lesetipp

Auch die September-Ausgabe des „Harvard Business manager“ (HBM) 2021 dreht sich um unser Thema. Wir legen Ihnen die Titelstory „Aufstieg um jeden Preis? Karriere: Ein Blick in die Zukunft, die bereits begonnen hat“ zur Lektüre wärmstens ans Herz.

Text Vera Hermes, 53 Jahre alt, selbstständig

 

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