Lust auf ein anderes Leben

2020-11-27T18:02:19+01:0025. Februar 2012|Tags: , , |

8 Jahre Online-Branche, 7 Jahre Mineralöl-Branche, 5 Jahre Marktforschung, 1 Jahr Kulturbereich, 2 Jahre Touristik – das ist die ansehnliche Berufsbilanz von Birgit Hüttner (46). Sie war unter anderem im Marketing von Aral tätig, später Leiterin Sales Communication bei Web.de und zuletzt fünf Jahre lang Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Online Forschung AGOF. Dann entschloss sie sich zu einem Spurwechsel. Seit gut drei Jahren führt sie ein fünf Hektar großes Weingut samt Restaurant im Rheingau. Eigentlich hatten Birgit Hüttner und ihr Ehemann nach einem Einfamilienhaus gesucht. Dann schleppte der Makler sie zur Ankermühle in Oestrich-Winkel. Herzklopfen setzte ein. Zwei Tage später war der Vorvertrag unterschrieben. Die Sanierungsarbeiten dauerten zehn Monate. Im Juni 2009 eröffnete Birgit Hüttner „ihre“ Ankermühle neu. Seitdem hat sie unter anderem den Gastronomiepreis Hessen 2010 als bestes Weinrestaurant gewonnen und wird einhellig von Medien wie dem Hessischen Rundfunk oder der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sowie vom Gault Millau und vom Feinschmecker empfohlen. Birgit Hüttner hat sich ihren Traum vom anderen Leben erfüllt – und feiert Erfolge.

Frau Hüttner, Sie hatten – zumindest von außen betrachtet – einen super Job und haben gut verdient. Was hat Sie dazu bewogen, beruflich etwas völlig anderes zu machen?

Birgit Hüttner: Ich hatte nach 20 Jahren Berufsleben das dringende Bedürfnis, frei zu gestalten. Bei der AGOF wurde sehr politisch agiert, man steht dort stark in der Medienöffentlichkeit. Ich war oft auf Geschäftsreisen, bin morgens los und abends um 20 Uhr wieder nach Hause gekommen, es war so ein typisches Stadt-Berufsleben. Irgendwann wollte ich ein anderes Lebenskonzept verwirklichen, ohne genau zu wissen, was es sein könnte. Ich hatte einfach Lust auf ein anderes Leben! Und ich hatte den Drang, etwas zu tun, wo ich sage, wie es gemacht wird, und dafür dann auch die Konsequenzen trage.

Warum fiel Ihre Wahl auf den Beruf der Winzerin und Gastronomin?

Birgit Hüttner: Es war nie der Plan, ein Weingut zu kaufen. Mein Mann und ich lagen nie im ehelichen Bett und haben gesagt: „Wir werden jetzt Winzer.“ Der Zufall hat mitgespielt. Wir wohnten in Wiesbaden und haben ursprünglich ein Haus im Rheingau gesucht. „Das entspricht doch gar nicht unserem Briefing“ war unsere erste Reaktion, als der Makler mit der Ankermühle kam. Er hat es dennoch geschafft, uns hierherzuschleppen. Und als wir dann vorm Tor standen, sagte mein Mann: „Ich habe Herzklopfen.“ Es folgten zwei schlaflose Nächte und dann haben wir den Vorvertrag unterschrieben. Mein Mann ist in seinem Beruf geblieben, ich habe gekündigt.

Birgit Hüttner führt seit gut drei Jahren die Ankermühle, ein Weingut mit Restaurant, dessen Wurzeln bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen. Wer nun eine romantische Vorstellung von der lustigen Winzerin in Gummistiefeln hat, muss leider enttäuscht werden: Beim Führen eines Weinguts und Restaurants fliegen einem wahrlich keine gebratenen Tauben in den Mund. Aber es macht der marketingerfahrenen Oberschwäbin trotzdem sehr viel Freude – in ihr altes „Stadt-Berufsleben“ will sie nicht zurück. www.ankermuehle.de

Ist Ihnen das schwergefallen?

Birgit Hüttner: Nein, überhaupt nicht. Ich habe sofort alle Newsletter abbestellt, denn es war mir klar, dass ich nie wieder zurückgehe. Einige haben gesagt, ich wäre nach spätestens einem Jahr wieder zurück. Aber ich wusste, dass das nicht stimmt und dass es für mich keinen Sinn mehr hat, die Medienpolitik zu verfolgen. Man gewinnt schnell sehr viel Distanz.

Wie ging es weiter?

Birgit Hüttner: Die Ankermühle ist ein altes Schätzchen aus dem 14. Jahrhundert. Wir haben ein knappes Jahr lang saniert. Dieses Jahr Sanieren war großartig – es war eine unbändige Freude, selbst zu gestalten. Viele Ideen entwickeln sich erst beim Gestalten. Ich musste erst ein Gefühl für das Haus bekommen, auch Denkmalamt und Brandschutz haben immer mitgesprochen. Abend für Abend habe ich vor dem Rechner gesessen und recherchiert: Lampen, Besteck, Ausstattung – das war wie ein Rausch, wie ein Jahr Adrenalin. Ich bin dankbar, dass ich so etwas machen durfte. Und wir sind auch noch nicht fertig, gerade haben wir einen Teich angelegt.

Wie haben Sie das finanziert?

Birgit Hüttner: Mein Mann und ich haben beide von Haus aus kein Geld mitgebracht. Aber wir haben beide lange gearbeitet und keine Kinder. Mein Mann hat seine Firma an ein internationales Unternehmen verkauft, damit hatten wir den nötigen Schub.

Sie haben während Ihres BWL-Studiums mit dem Schwerpunkt Fremdenverkehr eine studienbegleitende Ausbildung bei einem Sternekoch gemacht. Hat Ihnen das geholfen?

Birgit Hüttner: Das Thema Wein ist eine Leidenschaft von mir, außerdem sammle ich seit 25 Jahren Kochbücher und Rezepte. Aber ich stehe nicht selbst in der Küche oder im Weingut. Wir beschäftigen unter anderem einen Önologen, zwei Köche und zwei fest Angestellte im Servicebereich. Ich sitze im Büro und treffe Absprachen mit Kunden, denn wir richten viele große Veranstaltungen aus, haben fast jedes Wochenende eine Hochzeit oder Familienfeiern und organisieren viele Firmenevents.

Das klingt nach viel Arbeit.

Birgit Hüttner: Wer glaubt, dass ich lustig in Gummistiefeln über den Hof laufe, der täuscht sich. Es ist ein harter Job und gerade in der Saison kräftezehrend, aber er macht Spaß. Ich arbeite nicht weniger als früher, aber anders, sehr flexibel. Unter der Woche nehme ich mir einen Tag für mich frei, an dem ich nicht erreichbar bin. Dann gehe ich gern in die Therme, in die Sauna oder shoppen. In der Saison sind die Erholungspausen kürzer, im Januar haben wir Betriebsferien.

Was können Sie aus Ihrem „alten Leben“ für Ihre neue Berufung gebrauchen?

Birgit Hüttner: Ganz wichtig sind Marketing und PR, ein guter Internetauftritt und Plattformen wie Facebook. Ich kommuniziere sehr viel, schreibe Kunden an, mache Aktionen, werbe sehr viel übers Internet. Dadurch werden wir, obwohl wir erst 2,5 Jahre hier sind, sehr gut wahrgenommen und konnten in kurzer Zeit ein gutes Image aufbauen.

Und welches sind die größten Hürden bei solch einem Spurwechsel?

Birgit Hüttner: Man darf definitiv nicht verklärt an so eine Sache herangehen. Unternehmens- und Personalführung sind sehr wichtige Punkte, auch Formales wie Buchhaltung muss beherrscht werden – das ist zusammen mit Marketing und PR die halbe Miete, um ein Unternehmen erfolgreich zu platzieren. In unserem Geschäft arbeitet man zudem mit sehr kleinen Spannen. Optimierung ist nötig, damit am Ende was hängen bleibt. Die Margen sind wirklich atemberaubend niedrig. Die größte Hürde ist sicherlich, dass man branchenfremd ist. Es geht erst mal darum, zu begreifen, wie das Geschäft funktioniert. Das Thema Netzwerk ist gerade im Vertrieb sehr wichtig. Auch in Banalitäten wie etwa, welches Papier für die Etiketten ausgewählt wird und welche Korken genutzt werden, muss man sich einarbeiten. Das schaffen andere mit links. Da macht man die meisten Fehler und sammelt Erfahrungen. Eigentlich ist es ein ziemlich harter Beruf. Ich habe höchsten Respekt vor Familienbetrieben, die das alles am Laufen halten: Herstellung, Vertrieb, Marketing – es gibt deutlich einfachere Wege, sein Geld zu verdienen. Zudem ist der Wettbewerb enorm, und man ist außerdem vom Wetter abhängig: 30 Prozent weniger Ernte bedeuten 30 Prozent weniger Umsatz.

Wie läuft es denn wirtschaftlich?

Birgit Hüttner: Das Restaurant ist schon erfolgreich, der Weinberg ist längerfristig angelegt, aber im Plan.

Haben sich Ihre Erwartungen und Wünsche an Ihr „neues Leben“ erfüllt?

Birgit Hüttner: Ja! Das Schönste sind der Kontakt zu den Menschen und das direkte Feedback auf alles, was ich tue, egal, ob es eine neue Speisenkarte oder eine Weinprobe ist. Zu sehen, wie mein Angebot ankommt, ist toll. Die Rückspiegelung dessen, was man tut, hat man als Geschäftsführer in einem Unternehmen nicht so unmittelbar.

Das Interview führte: Vera Hermes

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