Mäßigung

2020-12-20T11:46:53+01:0018. September 2020|Tags: , , , , , , |
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Mäßigung – die nächste der vier platonischen Kardinaltugenden – klingt erst mal nach Verzicht und somit irgendwie spaßfrei und ein bisschen traurig. Dabei geht es bei der Mäßigung gar nicht darum, sich etwas zu versagen. Es geht ums Maßhalten, um die gesunde Mitte, sozusagen um die richtige Balance zwischen Prüderie und Zügellosigkeit, Askese und Ekstase, Enthaltsamkeit und Sucht. Die Corona-Pandemie zeigt, dass wir hier in Deutschland in puncto Mäßigung nicht besonders gut sind. Allerdings sorgt Corona auch dafür, dass mehr und mehr Menschen eine Ahnung beschleicht, dass Maßhalten durchaus eine sehr gute Sache ist.

 

Wir sind Hamster

 

Einzelne Feldhamster tragen bis zu 90 Kilogramm in ihre Vorratskammern. Das ist klug, denn dank diesem Vorrat kommen sie gut über den Winter. Zu Beginn der Corona-Krise folgten viele Menschen dem Hamster-Reflex: Sie kauften wie verrückt ein und legten Vorräte an. Zuerst waren es Hygiene- und Gesundheitsprodukte. Danach Pflegeprodukte und haltbare Lebensmittel. Schließlich Atemmasken und Desinfektionsmittel. Von Februar bis März 2020 stieg allein der Absatz von Toilettenpapier um 700 Prozent, meldete der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels (BVLH). Verunsicherung und Angst angesichts einer völlig neuen Situation sorgten dafür, dass die Menschen jedes Maß verloren und, auf ihren eigenen Vorteil bedacht, von manchen Produkten an sich rafften, was zu haben war. Interessanterweise sagen alle, die man so kennt, sie hätten nicht gehamstert. Entweder die Hamsterer befinden sich allesamt außerhalb des eigenen Bekannten-, Freundes- und Familienkreises oder die Menschen schämen sich insgeheim dafür, kein Maß gehalten zu haben.

 

Wir sind zügellos

 

Im Katechismus der katholischen Kirche ist nachzulesen: „Die Mäßigung ist jene sittliche Tugend, welche die Neigung zu verschiedenen Vergnügungen zügelt und im Gebrauch geschaffener Güter das rechte Maß einhalten läßt.“

 

Nun, auch das hat während des Lockdowns nicht so recht geklappt, wenn man sich mal ein paar neue Gewohnheiten anschaut. Laut einer repräsentativen Umfrage des Marktforschungsinstituts Ipsos vom Mai dieses Jahres haben sich 25 Prozent der Menschen in Deutschland während des Lockdowns zu wenig bewegt, zehn Prozent haben zu viel gegessen, neun Prozent mehr geraucht und acht Prozent mehr Alkohol getrunken.

 

Währenddessen verbrachten die Menschen sehr viel Zeit vor Bildschirmen: Allein der Streaming-Dienst Netflix verkaufte im ersten Halbjahr 2020 rund 25 Millionen Bezahlabos und legte an der Börse um 60 Prozent zu. Während also viele Erwachsene essend, rauchend und trinkend auf dem Sofa vor der Glotze saßen, frönte der Nachwuchs einer anderen medialen Zerstreuung: Die DAK meldet „alarmierende“ Studienergebnisse. Demnach sei das Gaming bei fast 700.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland riskant oder krankhaft. Im Vergleich zum Herbst 2019 hätten die Spielzeiten während des Lockdowns werktags um bis zu 75 Prozent zugenommen. Eine krankhafte Nutzung von Social-Media-Aktivitäten wird bei rund 170.000 Jungen und Mädchen festgestellt. Während der Corona-Krise seien die Social-Media-Zeiten werktags um 66 Prozent gestiegen – von 116 auf 193 Minuten pro Tag.

 

Ach ja, die EU-Drogenbeobachtungsstelle meldet: Der Konsum von harten Drogen, wie Kokain und Ecstasy, ist während der Corona-Krise zurückgegangen. Allerdings nicht aus Gründen der Mäßigung. Sondern weil die Lieferketten nicht mehr funktionierten und die Ausgehbeschränkungen die Beschaffung erschwerten.

 

Offenbar fällt es uns in Ausnahmesituationen besonders schwer, das Maß zu halten.

 

Wir vergessen uns

 

Bedauerlicherweise hat die Corona-Krise eine neue, wenn auch kleine Spezies auf die Weltbühne treten lassen: Anhänger von Verschwörungserzählungen. Deren Urheber verbreiten haarsträubende Falschaussagen. Der Ton und die Wortwahl, mit denen viele dieser Menschen argumentieren, lässt – völlig abgesehen vom Inhalt – jedes Maß an Anstand und Respekt vermissen.

 

Wir sind lernfähig, vielleicht

 

Gleich mehrere Studien zum Konsumverhalten prognostizieren: Viele Menschen wollen künftiger bewusster und nachhaltiger einkaufen. Oder weniger Überflüssiges. „DIE ZEIT“ bringt auf den Punkt: „Offenbar ist auch etwas Reizvolles am Weniger. Selbstverständlich nur für diejenigen, die mehr Geld haben, als sie für das Nötigste brauchen. Verzicht ist allein für diejenigen eine kulturelle und ökonomische Alternative, die etwas zum Verzichten haben.“ Wer es sich finanziell und emotional leisten konnte, hat die Corona-Pandemie vielleicht sogar ein bisschen genossen und das Innehalten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens genutzt, darüber nachzudenken, was man eigentlich so braucht. Nach Jahrzehnten des kontinuierlichen, häufig maßlosen „Schneller, höher, stärker“ hat der Lockdown gezeigt, was wichtig ist. Zukunftsforscher Horst Opaschowski sagt in einem „Spiegel“-Interview: „Die Menschen werden jetzt neu darüber nachdenken, was ihnen wichtig ist. (…) Nach der Krise werden sich die Leute häufiger fragen: Was ist mir wichtig und worauf kann ich verzichten? ‚Konsum nach Maß‘ könnte die neue Glücksformel sein.“

 

Übrigens: Nach dem Run auf das Toilettenpapier im Frühjahr folgte die Flaute. Erst Ende Juli meldete das Marktforschungsunternehmen Nielsen eine sich anbahnende Normalisierung der Nachfrage. Die Vorräte, so die Hoffnung der Branche, seien wohl bald aufgebraucht.

 

Text: Vera Hermes

 

 

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