
Dr. Thomas Röttger ist Pharmazeut, hat an der Universität, in Krankenhäusern und über 15 Jahre in der Pharmaindustrie gearbeitet, ist heute Inhaber einer sehr innovativen und kundenorientierten Apotheke in einem Vorort von Hamburg, ist streitbar und hat gute Innenansichten ins deutsche Gesundheitswesen. Zwischen immer neuen Corona-Verordnungen, Seminaren für Pflegepersonal und Wochenenddiensten hat sich der Apotheker eine Stunde Zeit genommen, um mit uns über den Einsatz von Technik in Medizin und Pflege zu sprechen.
Interview Vera Hermes
Dr. Röttger, ist es grundsätzlich wünschenswert, dass mehr Technik im Gesundheitswesen eingesetzt wird?
Die Frage, ob das wünschenswert ist, stellt sich gar nicht. Es ist aufgrund der beschränkten Personalressourcen unumgänglich. Wir haben jetzt schon einen eklatanten Mangel an Pflegepersonal. Aufgrund der Tatsache, dass der Beruf nach wie vor relativ uninteressant ist und wir viel mehr zu Pflegende haben werden – nicht nur im Krankenhaus, sondern insbesondere auch ältere zu Pflegende – wird dieser Mangel in den nächsten Jahren viel, viel schlimmer werden. Das heißt, wir werden ein noch deutlich krasseres Missverhältnis zwischen Pflegenden und zu Pflegenden haben, sodass wir im Servicebereich an der Technik eigentlich überhaupt nicht mehr vorbeikommen.
Wir sind dann ja die Generation, die vielleicht von Robotern gepflegt werden wird – kann man das wollen?
Es ist die Frage, welche Aufgaben die digitalen Helferlein übernehmen. Gerade in der Pflege sind das eher Aufgaben, die sehr einfach strukturiert sind. In einigen Einrichtungen gibt es zum Beispiel schon Transport-Roboter, die durch Schleifen im Boden gesteuert werden und schlicht und ergreifend das Essen herbeifahren oder die Wäsche wegfahren. Das sind Tätigkeiten, für die man kein ausgebildetes Pflegepersonal braucht. Wenn man solche Tätigkeiten von einer Technik erledigen lässt, kann sich das Pflegepersonal auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist – nämlich die Menschlichkeit und die persönliche Pflege. Es gibt schon eine ganze Menge Versuche in diese Richtung. Im Moment sind wir da leider noch bei sehr simplen Dingen, wie beispielsweise Sensoren, die feststellen, ob ein Patient noch im Bett liegt oder ob er schon oder ob er zu lange im Bad ist und man da mal nachgucken sollte.
Für die Pflegenden können technische Lösungen echte Unterstützung bieten. Die Krankheitsquote unter Pflegenden im orthopädischen Bereich ist enorm. Wenn denen dabei geholfen wird, zum Beispiel übergewichtige Patienten zu heben oder sie morgens mithilfe von Exoskeletten* nach dem Waschen zu mobilisieren, dann ist das eine enorme Erleichterung.
Also ist mehr Technik in der Pflege eine gute Sache?
Ja, zum Wohle des Menschen auf jeden Fall.
Es gibt ja nicht nur Pflegeroboter, sondern auch Therapie- und OP-Roboter. Was ist denn von denen zu halten?
Da bewegen wir uns auf einem ganz anderen Niveau. OP-Roboter sind weniger eine Entlastung, sondern bieten die Möglichkeit, an der einen oder anderen Stelle genauer und präziser zu arbeiten, zum Beispiel in der Prothetik. Wenn es um sehr filigrane Strukturen geht, ist eine Maschine in der Lage, besser zu operieren als noch so erfahrene Operateure.
Ich sehe gute Chancen, dass man zukünftig mit Robotern besser operiert – und ich will da wirklich nicht den Ärztinnen und Ärzten auf die Füße treten. Diese Roboter sind kein Ersatz für Operateure, denn sie müssen gesteuert und überwacht werden, und zwar von gut ausgebildeten Menschen. Es geht hier also um eine Steigerung der Qualität der Arbeit.
Der Nachteil von OP-Robotern ist, dass sie sehr, sehr teuer sind. Werden sich künftig Privatpatientinnen und -patienten von einem Roboter operieren lassen und der Rest muss mit Menschen vorliebnehmen?
Das ist eine Entwicklung, die sich nicht nur in der Technik oder im Bereich Krankenhaus zeigt, sondern das ist etwas, das wir auch bei Arzneimitteln sehen – die Kosten steigen enorm und die Belastung der Krankenkassen ist immens. Es wird alles immer teurer und wir müssen als Gesellschaft eine Antwort finden, wie wir damit umgehen wollen. Denn auf Dauer werden wir das System, das wir jetzt haben, nicht mehr bezahlen können.
Laut einer PwC-Studie** von 2019 kann Künstliche Intelligenz binnen zehn Jahren die Gesundheits- und Folgekosten in Europa um knapp 200 Milliarden Euro senken.
Was meinen Sie: Wäre es möglich, mit dem Einsatz von Technik eine so große Ersparnis zu erzielen, dass man zum Beispiel die teuren Medikamente und OP-Roboter gegenfinanzieren kann?
Natürlich gibt es den Versuch, mit der Technik auch Geld zu sparen – allerdings verursachen die Anlagen, die da eingesetzt werden, auch hohe Kosten. Wir haben nebenbei auch noch ein anderes Problem: eine Gesellschaft, die immer kränker und beispielsweise in der Diabetes ein immer dramatischeres Problem wird. Eine Diabetestherapie ist wahnsinnig teuer. Da kann man mit digitalen Tools wenig bis gar nichts anfangen, um das Ganze zu verbessern. Das heißt, wir haben nicht nur immer teurere Geräte, immer teurere Arzneimittel, sondern wir haben eben auch eine Bevölkerung, die älter wird und die immer kränker wird – und sogar schon Kinder, die unter Diabetes 2 leiden. Man kann vielleicht mit Technik Geld einsparen, aber wir brauchen es an einer anderen Stelle wieder.
In der guten alten „Apotheken Umschau“ wurden unlängst die Vorteile von medizinischen Apps in der Kinderheilkunde beschrieben. Da ging es zum Beispiel um Prognosen rund um Neurodermitis-Ausbrüche. Sind solche Apps eine gute Idee?
Ich denke schon. Es gibt einfach viele Menschen, denen man bestimmte Verhaltensweisen intellektuell nicht näherbringen kann. Die brauchen eine Unterstützung, und da können Apps hilfreich sein. Es wird momentan sehr intensiv diskutiert, welche Apps auf Rezept verordnet werden könnten.
Die für dieses Jahr angekündigte Apple Watch 8 soll nicht nur die Zeit anzeigen und für allerlei Kommunikation sorgen, sondern auch den Blutdruck ihrer Träger messen, deren Schlaf überwachen, die Fruchtbarkeit und den Blutsauerstoffgehalt anzeigen. Wie bewerten Sie als Pharmazeut eine solche Entwicklung – ist das guter oder schlechter Service?
Apple wird bei bestimmten Funktionen schlicht und ergreifend an regulatorischen Hürden scheitern. Letztendlich wäre eine Smartwatch mit bestimmten Funktionen ein Medizinprodukt. Etwas als Medizinprodukt zu qualifizieren und zu registrieren kostet sehr viel Geld und bedeutet eine deutlich höhere Produktverantwortung.
Geld dürfte für Apple kein Problem sein.
Ich kann mir momentan aber nicht vorstellen, dass so eine Uhr technisch auf dem Niveau eines Medizinproduktes liegt. Für den Convenience-Bereich halte ich das für toll. So eine Uhr kann einem Patienten, der beispielsweise einen instabilen Hochdruck hat, sicherlich einen Hinweis darauf geben, dass da gerade etwas schiefläuft und er gegebenenfalls zum Arzt gehen sollte. Aber als Ersatz für tatsächliches Messen? Das halte ich aktuell für zu hoch gegriffen. Ich denke, mittel- bis langfristig werden wir sicherlich dahin kommen, dass wir mit solchen Devices sehr genau messen können, aber so weit sind wir noch nicht.
Gesetzt den Fall, wir kriegen irgendwann all diese maschinelle Unterstützung und die hilfreichen Roboter: Ist im deutschen Gesundheitswesen genug kompetentes Personal vorhanden – von Chefärztinnen bis zur Pflegekraft –, das mit den neuen technischen Möglichkeiten umgehen kann und will?
Aktuell leider nein.
Lernt man das denn heute im Medizinstudium?
Die Qualifikation von Ärzten im OP findet nach der Ausbildung statt. Das heißt, wenn sie ihre Approbation haben. Die müssen an Krankenhäusern sein, an denen solche Methoden eingesetzt werden, dann lernen sie das. Oder aber sie müssen dann, wenn das neu eingeführt wird, erst mal einen relativ aufwendigen Kurs machen und ein Zertifikat haben, denn erst dann dürfen sie damit arbeiten.
Wer bezahlt das?
Die Krankenhäuser. Das ist eine sinnvolle Investition, denn die Dinger sind kompliziert und man muss den Umgang mit ihnen lernen. In der Pflege sieht das ein bisschen anders aus. Da haben wir allerdings das Problem, dass eine gewisse IT-Affinität der Mitarbeiter vorhanden sein muss. Dazu habe ich ein interessantes Papier vom Bundesamt gelesen – man guckt derzeit, wie man die Leute motiviert, mit der Technik zu arbeiten. Es gibt viele, die das nicht so richtig gerne tun. Die digitale Dokumentation läuft in weiten Teilen schon, aber es war ein hartes Stück Arbeit, die Menschen davon zu überzeugen, von ihren Akten wegzukommen. Ich denke, es wird noch mal ein Problem sein, den Mitarbeitenden in der Pflege beizubringen, dass die digitalen Helferlein ihren Job nicht ersetzen, sondern sie im Job unterstützen. Und ich sehe noch ein ganz anderes Problem …
Welches?
… wie erleben gerade, dass die aktuell alte Generation absolut nicht IT-affin ist. Es wird gern so dargestellt, dass ältere Menschen, denen es gerade nicht gut geht, auf einen Knopf drücken, und schon erscheint ein Pfleger auf einem Bildschirm. Also ich kenne genügend alte Leute, die noch nicht mal in der Lage sind, ihr Handy zu benutzen.
Aber in 25 Jahren sind wir ja die Menschen, die gepflegt werden. Und wir können das dann hoffentlich.
Das ist die längerfristige Perspektive. Aber in der aktuellen Situation kriegen wir das mit den alten Leuten in weiten Teilen nicht hin. Und beim Pflegepersonal bin ich auch sehr gespannt. Ich habe viel Kontakt zu Pflegepersonal. Es ist sehr, sehr gut in der Pflege und im persönlichen Kontakt zu Menschen. Aber ich denke, es ist ein echtes Stück Arbeit, den Pflegenden klarzumachen, dass sie mit den Robotern zusammenarbeiten müssen und die ihnen die Arbeit nicht wegnehmen, sondern dass sie ihnen die Arbeit erleichtern sollen und dass sie sich einfach darauf einlassen müssen, damit ihr Job zukünftig vernünftig läuft.
Der Fortschritt in der Medizintechnik ist enorm: Intelligente Verbände zeigen den Heilungszustand an. Algorithmen entwickeln Arzneimittel. KI analysiert Tumorbilder. Apps prognostizieren Krankheitsschübe. Wenn Sie einen Medizintechnikwunsch frei hätten – welcher wäre das?
Ich würde mir eine Anlage wünschen, die, ohne den Patienten zu verletzen, deutlich mehr Parameter aufnehmen und deutlich mehr Diagnostik betreiben kann. Das heißt, man schiebt den Menschen einmal in irgendeine Röhre und die Maschine ist in der Lage, diverse Körperzustände zu messen und damit innerhalb von sehr, sehr kurzer Zeit Diagnostik zu betreiben.
Ist das sehr theoretisch oder gibt es eine reale Chance, dass es eine solche Technik irgendwann geben wird?
Das ist noch relativ theoretisch. Aber es gibt Versuche, so etwas zu machen. Wir werden irgendwann dahin kommen.
*„Exoskelette sind mechanische, maschinelle beziehungsweise robotische Stützstrukturen für Menschen oder Tiere. Sie entlasten Arbeiter in der Fabrik, ermöglichen Behinderten das Aufstehen und Umhergehen oder dienen der Therapie. Manche verfügen über einen Antrieb, andere nicht.“ Quelle: wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/exoskelett-119761
**pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/interview-kuenstliche-intelligenz-in-der-medizin.html
Weiterführende Quellen, die für die Recherche genutzt wurden:
link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-22698-5_11
apotheken-umschau.de/e-health/mit-ki-krankheiten-bei-kindern-erkennen-838571.html
Vera Hermes führte dieses Interview mit Dr. Thomas Röttger, Pharmazeut.