Roundtable: Zukunft Kundenservice

Die Zukunft ist eine Glaskugel. Was wir wissen ist, dass sich die Veränderungsgeschwindigkeit enorm beschleunigt. Wir haben es mit einer sehr viel schnelleren Welt zu tun. Wir haben es zudem mit einer technologisch rapide schnell komplexer werdenden Welt zu tun. Und wir haben es mit sehr schnell steigenden Kundenerwartungen zu tun. Das ist eine Trilogie, die für alle, die Kundenservice verantworten, eine extreme Herausforderung birgt.

Hinzu kommt, dass Kundenservice-Einheiten in den vergangenen Jahren regelrecht vorgeführt wurden – von den Giganten der Internökonomie, also Amazon, Apple & Co. Nicht mehr die jahrzehntelang gern heraufbeschworene Tante Emma ist das Maß aller Dinge, die US-Konzerne setzen heute mit ihren performanten, automatisierten, digitalen Prozessen die Standards im Service.

Was müssen Unternehmen, die Kundenservice erbringen, jetzt ganz konkret tun, um sich für die Zukunft fit zu machen? Wohin wird sich Service entwickeln? Zum Differenzierungsmerkmal im Wettbewerb? Zur Premiumdienstleistung für preisbereite Kunden? Zur kostenlosen Selbstverständlichkeit? Wie wird Technik den Service verändern? Welche Rolle spielen Menschen im Service? Welche Fähigkeiten müssen sie mitbringen? Fragen über Fragen. Höchste Zeit also, ein paar Profis zusammenzutrommeln, um Antworten zu finden:

Jens Bormann war jahrzehntelang das b in buw. 2016 verkauften Bormann und sein Kompagnon Karsten Wulf ihr rund 6.000 Mitarbeiter starkes Unternehmen für 123 Millionen Euro an den US-amerikanischen Call Center-Konzern Convergys. Zuvor kaufte Bormann vier Tochtergesellschaften aus der buw heraus, darunter buw Consulting und buw Digital. Seine neue Osnabrücker Firma heißt Muuuh!, was für „mutig und unbequem und herausragend” steht, und beschäftigt sich mit der Kundenschnittstelle in all ihren Facetten.

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Dr. Gerd Robertz ist Sprecher der Geschäftsführung von BoD, Books on Demand, in Norderstedt und dort zuständig für Marketing, Vertrieb, Internationales und Kundenservice. BoD ist eine Selfpublishing-Plattform, die Autoren, Verlagen, der Wissenschafts-Community und Firmenkunden digitale Publikationsdienstleistungen inklusive digitalen Buchdruck „on demand“ ab Auflage 1 anbietet. Robertz arbeitete früher unter anderem in den USA im Marketing von Bertelsmann, später in Kanada als Geschäftsführer der Bertelsmann Buchclubs und von buecher.de in Augsburg.

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Uwe Lamnek ist seit September 2017 neben Thomas Hohlfeld geschäftsführender Gesellschafter von Ribbon & Partner in Hamburg. Die Unternehmensberatung begleitet seit über zehn Jahren Strategie- und Transformationsprozesse und ist auf Themen rund um Customer Care und CRM spezialisiert. Uwe Lamnek verfügt über eine 20 Jahre lange operative Erfahrung im Customer Care, zuletzt sieben Jahre als Vorstand bei der 1&1 Internet SE. Und er ist „Kunde von BoD und richtig glücklicher Autor” zweier Fachbücher über Outsourcing sowie Workforce-Management im Customer Care.

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Iris Gordelik ist Inhaberin der auf Customer Executives spezialisierten Personalberatung Gordelik und Herausgeberin der vernetzt!

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und Vera Hermes ist Freie Journalistin, Chefredakteurin des vernetzt!-MAGAZINS  und stellte in dieser munteren Runde die Fragen.

 

Vera Hermes: Lassen Sie uns mit einer ganz pauschalen Eingangsfrage starten: Wie wird sich der Kundenservice in Zukunft verändern?

Jens Bormann: Selbst wenn ein Unternehmen ein Weltklasse-Produkt oder eine Weltklasse-Dienstleistung hat: Wenn es an der Kundenschnittstelle schlecht ist, hat es keine Zukunft. Wenn es aber mit einer mittelmäßigen Dienstleistung oder einem mittelmäßigen Produkt an der Kundenschnittstelle extrem stark ist, kann es auch in Zukunft eine Rolle spielen. Die entscheidende Frage ist für mich: Antizipieren die Unternehmen, wie wichtig das Thema Kunde ist? Und verstehen sie es nicht nur, sondern richten sie ihre Prozesse danach aus und stellen sie den Kunden in den Fokus?

Gerd Robertz: In einer Welt, die von uns als immer schnelllebiger wahrgenommen wird, in der Bindungen immer schwerer aufzubauen und zu erhalten sind, wissen es die Menschen zu schätzen, wenn Unternehmen Produkte und Dienstleistungen anbieten, die mehr bedeuten, als eine kurze, einmalige Bedürfnisbefriedigung.

Uwe Lamnek: Schaut man sich Service an, dann sieht man immer mehr Technik, wie etwa künstliche Intelligenz und Chat-Robots. Was bleiben wird – davon bin ich überzeugt – ist der persönliche Service vom Agenten. Ich glaube, die Technik wird uns bei all den simplen How-to-Fragen helfen. Kunden werden nicht mehr anrufen müssen, um zu fragen, wie irgendwas funktioniert. Das heißt aber auch, dass wir mehr Fachexperten benötigen, die bei schwierigen Fragen helfen.

Jens Bormann: Diese Technik muss auch dem Agenten zur Verfügung stehen. Denn sein Mehrwert kann ja nur sein, dass er mindestens das gleiche Wissen hat wie die Maschine – und die Antwort dann aber noch charmanter und individualisierter transportiert als die Maschine. Denn wenn die Maschine den Service auch noch empathischer, strukturierter und pointierter herüberbringt, dabei vielleicht auch noch nicht einmal unsympathisch ist – was beim Menschen ja auch noch passieren kann – dann werden die Leute den technischen Service vorziehen.

Wenn Premiumservice aber als Premium wahrgenommen wird, dann spielt der Mensch natürlich eine weiterhin riesige Rolle. Auf dem Weg dorthin wird noch ein bisschen Zeit vergehen, aber die Technik wird enorme Fortschritte machen. Und die Künstliche Intelligenz wird dazu beitragen, dass es dem Menschen immer schwerer fallen wird, zwischen Menschgespräch und  Maschinengespräch zu differenzieren. Ich glaube, es wird in zehn Jahren eine Herausforderung sein, dass der Mensch noch besser agiert als die Maschine.

Uwe Lamnek: Der Service wird viel mobiler werden. Schauen Sie allein mal, wie viele Smartphones hier auf dem Tisch herumliegen und welche Dinge des täglichen Lebens – inklusive Ansprüche auf einen Kundenservice – wir darüber abwickeln. Gleichzeitig kämpfen viele Verantwortliche im Kundenservice noch damit, Omnichannel-Management mal irgendwie in den Griff zu bekommen.

Die neue Rolle

Gerd Robertz: In der Vergangenheit war Kundenservice in erster Linie ein reaktives Antworten auf simple Fragen, nach dem Motto: „Wieso funktioniert mein Router nicht, wo bleibt mein Paket? Wieso ist das kaputt?” Alles Dinge, von denen wir wissen, dass man sie im Grunde genommen lieber mit der Maschine klärt. Wenn es wirklich ein Problem gibt, ist das Ziel eines guten Kundenservice, dass man sich dafür gar nicht mehr lange durch irgendwelche Hotlines wählen muss, sondern dass zum Beispiel der Router das Problem selber löst.

Ein Großteil der Themen, die vor wenigen Jahren die Kundenserviceabteilung sehr intensiv beschäftigt haben, sollte eigentlich zunehmend entweder von der Maschine direkt erledigt werden oder in einer einfachen Mensch-Maschine-Interaktion. Wenn aber die Mensch-Maschine-Beziehung in vielen klassischen Bereichen für den Kunden fast effektiver und befriedigender ist, als ein langwieriges Erzählen am Telefon, dann fragt sich, was das für den Kundenservice bedeuten wird.

Für mich liegt die Lösung darin, den Kunden proaktiv als Begleiter in seinen Bedürfnissen zu unterstützen. In vielen Bereichen begibt sich der Kunde auf Neuland. Sei es mit dem Produkt, das er wählt, sei es mit der Dienstleistung, von der er gar nicht weiß, welche Möglichkeiten darin stecken. Die Begleitung ergibt sich einerseits durch vernünftiges Managen, Aufarbeiten und Nutzen von Daten, andererseits aber auch aus der direkten Interaktion mit dem Kunden. Das erfordert ein tiefes Verständnis davon, was der Kunde wirklich will und womit man ihm helfen kann.

Jens Bormann: Wenn man das nicht in den Griff bekommt, ist man in Zukunft weg.

Iris Gordelik: Noch vor 15 Jahren hatte der Kundenservice die strategische Position, als Wettbewerbsvorteil zu dienen, um ein mittelgutes Produkt zu einem guten Produkt zu machen. Diese Rolle gibt es nicht mehr. Der Kundenservice hat nicht mehr die strategische Macht etwas auszumerzen. Warum nicht? Weil heute Technik der Treiber ist. Das sind Prozesse, das ist KI, das ist Roboterisierung. Der Kundenservice wird sich dem anpassen. Arbeitsplätze werden sich verlagern. Die 10-Euro-Stundenlohn-Arbeitsplätze wird es bald nicht mehr geben. Deren Arbeiten sind so skalierbar und einfach, dass sie von einem Roboter abgelöst werden.

Ich nutze Booking, ich nutze PayPal, ich nutze Amazon. Ich habe in allen drei Fällen noch nicht ein einziges mal telefonischen Kontakt zu diesen Unternehmen gehabt. Warum? Weil die Unternehmen von Vorneherein sowohl ihre Prozesse als auch die zur Verfügung stehende Technik in vollstem Umfang nutzen. Die Prozesse sind genial. Ich erinnere mich noch an AOL-Zeiten, in denen das Telefon der erfolgreichste Vertriebskanal war. Heute sind gute Prozesse ein erfolgreicher Vertriebskanal. Weil ich es so einfach bei booking.com und Amazon habe, nutze ich sie stärker. Ich wachse als Kunde, weil Prozesse und Technologie einfach gut sind.

Aus Personalsicht haben wir momentan fast einen Zustand der Paralyse. Ich erlebe ganz viele Führungskräfte, die Kundenservice nicht in die Zukunft transportiert bekommen. Sie verharren in der Vergangenheit und beschäftigen sich mit Workforce-Management, Einsatzplanung, das EBIT zu erreichen, Mitarbeiterfluktuation oder der Krankenquote. Diese Tools beherrschen sie aus dem Effeff. Von den Zukunftsmanagern gibt es allzu wenige.

Die neue Denke

Vera Hermes: Was müssen Manager denn tun, um sich zukunftsfit zu machen?

Iris Gordelik: Sie müssen open minded sein, lesen, sich bilden, hinausgehen, sich für neue Geschäftsmodelle interessieren. Wer seine Berufscouch nicht verlässt, kann das gut noch fünf, sechs Jahre machen. Aber die Welt verändert sich rasant. Ich habe vor 20 Jahren einen Vortrag im Marketingclub gehört, da hat jemand gesagt: „Es ist ganz einfach. Wir werden demnächst die have’s und die not have’s haben.“ Und genau diese Situation haben wir jetzt auch. Entweder haben wir Manager, die sagen: „Alles soll bitte so bleiben, wie es ist“ oder „Ich gestalte die Zukunft mit“.

Jens Bormann: Wenn wir heute über Kundenservice reden, dann muss er Customer-zentriert sein. Da geht es in der Tat nicht mehr um Aufgaben klassischer Prägung. Das war nämlich Kutschefahren. Jetzt reden wir mindestens über Autofahren. Eigentlich reden wir schon über autonomes Fahren. Diese Denke muss in den Kundenservice hinein. Wer das nicht in den Griff bekommt, hat gegen Amazon und Co. einfach keine Chance. Wenn Unternehmen nicht Customer-focused und exzellent in ihren Prozessen und den ergänzenden menschlichen Facetten Marketing, Service und Vertrieb sind, dann haben sie überhaupt keine Chance mehr. Ohne eine exzellente Journey und ohne Exzellenz an der Kundenschnittstelle haben sie keine Chance. Sind sie Scheiße am Kunden, sind sie raus.

Iris Gordelik: Was essentiell dazugehört, ist die Bereitschaft, das aufzugeben, was man gestern noch hatte. Gefordert ist eine permanente Veränderungsbereitschaft und permanente Erkenntnis. Das betrifft Mitarbeiter, das betrifft Standortsicherheiten, das betrifft vielleicht sogar Privilegien. Es geht um einen Kulturwandel. Wer den beherrscht, ist König.

Pizza bestellen heißt Pizza bezahlen

Uwe Lamnek: Früher war die Bewertung eines Kundenservice sehr einfach. Heute ist sie komplexer. Es gibt zum Beispiel Telekommunikationsanbieter, denen Kunden subjektiv eine viel bessere Netzqualität bescheinigen als anderen. Fakt ist aber, dass beide Anbieter auf einer identischen Infrastruktur arbeiten. Da muss man sich fragen: Wie kommt der Kunde zu seiner Meinung? Was ist bei den Anbietern unterschiedlich? Die Antwort: Es ist das Serviceerlebnis rund um das Netz beziehungsweise das Produkt.

Jens Bormann: Das zeigt die Chance, die im Service liegt.

Iris Gordelik: Die Customer Centricity findet ja nicht operativ im Kundenservice statt, sondern eigentlich schon in der Prozessdefinition und Produktentwicklung. Überall müsste jemand mit Kundendenke sitzen. Unsere Branche hat Potenzial. Ich kenne einige Topmanager, die man als Personalvorstand eingesetzt hat. Ich weiß von einem Unternehmen, in dem gerade das Logistik und Facility Management von einem Customer Service-Profi übernommen wurde. Warum? Weil der Vorstand erkannt hat, dass ein Logistikprozess auf die Kundenzufriedenheit einzahlt. Das heißt: Wer diese Kundenliebe, diese Begeisterung und diese Denke mitbringt, wird heute an allen Schnittstellen benötigt.

Gerd Robertz: Wir müssen den Kundenservice aus der funktionalen Ecke herausholen. Der Kundenservice muss zur Grundlage der Prozessdefinition im gesamten Unternehmen werden.

Iris Gordelik: Kunden-Centricity ist strategisch. Die alte operative Kundenservice-Welt, in der wir unsere 500 Menschen nach dem Motto „Sei nett am Telefon“ trainiert haben, gibt es nicht mehr.

Die neue Rechnung

Vera Hermes: Mit der Technik steigen die Anforderungen an die Menschen. Kundenservice braucht künftig vermutlich bestens ausgebildete Top-Leute, braucht zukunftszugewandte Experten. Zugleich sagen aber Umfragen, dass Menschen nicht für Service zu zahlen bereit sind. Der von diesen Top-Leuten erbrachte Service wird also höchstwahrscheinlich nicht vom Kunden vergütet. Wie soll denn das betriebswirtschaftlich gehen?

Iris Gordelik: Die Denke ist ja nicht so ganz richtig. Jetzt vermengen wir wieder alte Welt und neue Welt. In der alten Welt gab es zum Beispiel einen kompletten Internet- und Telefonzugang für 19 Euro 95 im Monat. Da stellten sich die Fragen: „Wie viel davon kann denn Service kosten? Wie häufig ruft der Kunde an? Zwei mal? Wie können wir das drücken?” So ist das Geld aus dieser Pauschale kalkuliert worden. Künftig wird das Geld anders verteilt werden. Es speist sich dann aus einem Technologiebudget. Da werden die ersten 30, 40, 50 Prozent an Calls vermieden. Solche Konzepte sind ja nicht mehr neu. Da wird wohl auch Personal abgebaut oder im besten Falle verlagert. Das ist nochmal ein anderes Thema. Ich glaube nicht, dass wir plötzlich eine Arbeitslosenquote unter Telefonagenten bekommen, die für viel Geld ausgebildet wurden. Eine kluge Umschichtung dieser hoch kommunikativen Menschen ist wichtig. Die Kosten verschieben sich. Und damit wird eben auch die Frage, ob Service etwas kosten darf, hinfällig.

Uwe Lamnek: Heute sitzt in Unternehmen einCustomer-Service-Verantwortlicher und kämpft für das Budget. Damit fängt das Elend doch schon an. Wir referenzieren so oft auf Amazon, das es mir manchmal schon unangenehm ist – aber es gibt einen Punkt, der mir super gefällt: Bei Amazon zahlt derjenige die Customer Service-Rechnung, der das Problem verursacht hat. Dort wird gefragt: „Wer ist dafür verantwortlich, dass die Kunden zwei Mal pro Jahr anrufen müssen?” Und dann schickt der Customer Service-Verantwortliche demjenigen im Unternehmen die Rechnung. Somit hat der Customer Service gar kein Budget im traditionellen Sinne mehr, sondern kann sich voll darauf konzentrieren, einen super Service zu erbringen anstatt seine Zeit mit Abweichungsanalysen zum Finanz-Monatsabschluss oder quartalsweisen Budgetgespräch zu verschwenden.

Jens Bormann: Pizza bestellen heißt auch Pizza bezahlen.

Gerd Robertz: Wir müssen heraus aus dem reinen Kostenblockdenken und hin zu einer Prozessdefinition, die dafür sorgt, dass der Kunde mit einfachen Themen gar nicht mehr zu uns kommen muss. Da stellt sich doch die Frage, ob der Leiter oder die Leiterin Kundenservice die richtigen Personen sind, um diesen Prozess oder diese Prozessveränderungen zu managen und zu initiieren. Muss der Impuls nicht von ganz anderer Stelle kommen? Wir müssen völlig neu denken. So wie es eben viele bereits genannte Player im Markt von Anfang an getan haben. Die sind gar nicht erst mit den klassischen Strukturen gestartet.

Iris Gordelik: Ich bin immer noch ein großer Anhänger des Customer Officers auf C-Level-Ebene. Die Position hat sich in Deutschland und Europa nur ganz vereinzelt durchgesetzt. Das hat damit zu tun, dass momentan sehr viel über CTOs diskutiert wird – wir sind in einer Technik-Phase.

Jens Bormann: Wir können das nennen, wie wir wollen. Am Ende des Tages …

Iris Gordelik: …brauchen wir im Vorstand einen, der den Kunden denkt.

Die neue Kultur

Gerd Robertz: Eine zentrale Frage in Zusammenhang mit dem Kulturgedanken lautet: Welche Rolle spielt der Kunde in dieser Kultur? Inwieweit lasse ich ihn teilhaben? Inwieweit mache ich ihn zum Teil meines Produkts? Inwieweit traue ich dem Kunden zu, für das Produkt Aussagen zu treffen? Beispielsweise indem auf Plattformen oder in Foren technische Fragen gar nicht mehr unbedingt von meiner Kundenserviceabteilung beantwortet werden müssen, sondern von Kunden? Die Rolle des Kunden im Kundenservice der Zukunft ist meines Erachtens eine ganz, ganz wichtige. In dem Moment, in dem ich es geschafft habe, den Kunden für eine Dienstleistung wirklich zu begeistern, wird das ansteckend wirken. Das zum Bestandteil der Kommunikation mit meinen Kunden zu machen, halte ich für ein ganz wesentliches Element dieser Kultur.

Iris Gordelik: Es ist eine strategische Entscheidung: Ist mein Unternehmen technologiegetrieben? Dann muss ich alles in Forschung und Entwicklung stecken. Gutes Beispiel ist Apple. Eigentlich braucht Apple keinen guten Service, weil das Unternehmen mit seinen Produkten punktet. Apple hat ja lustigerweise die besten Ratings bei der Zufriedenheit mit dem Kundenservice. Ich glaube, selbst wenn der Service mal ein bisschen schlechter ist, geben die Menschen trotzdem eine gute Bewertung ab, weil sie von dem Produkt so begeistert sind. Andere Unternehmen müssen viel mehr ihres Budgets in gute Technik für Kundenserviceprozesse investieren.

Jens Bormann: Die Frage ist doch: Bist du Vorreiter oder bist du hinten dran? Apple hat ja nicht in Service und auch nicht in Budgets gedacht. Die haben einfach ein geiles Produkt gemacht. Wir hingegen reden letztendlich über Unternehmen, die Service bis heute nicht richtig verstanden haben. Und deswegen am Hecheln und am Laufen sind. Wer jetzt nicht die Beine in die Hand nimmt, der braucht bald nicht mehr zu laufen – denn dann ist das Rennen vorbei.

Vera Hermes: Aber denken Sie doch zum Beispiel mal an O2, ein Unternehmen, von dem die Bundesnetzagentur im September 2017 schrieb, es sei für seine Kunden faktisch nicht zu erreichen. Trotzdem hat O2 noch viele Kunden. Klafft hier beim Kunden nicht eine große Kluft zwischen Erwartungshaltung und Reaktion?

Jens Bormann: Wir sind uns einig, dass die Gesamtmarkenwahrnehmung darunter schwer gelitten hat? Wir sind uns einig, dass das richtig schlecht war für den Deckungsbeitrag pro Kunden und jeden neu abgeschlossenen Kunden?

Uwe Lamnek: Absolut. Und ich glaube, wir sind uns auch einig, dass sich das auf Vertriebszahlen, Churn und Markenreputation ausgewirkt hat.

Vera Hermes: Dennoch: Die Kunden regen sich – zu recht ­– furchtbar auf. Das Thema schafft es bis in die Tagesschau. Aber es scheint nicht so, dass die Kunden in Heerscharen abwandern.

Gerd Robertz: Es gibt ja immer noch Branchen, in denen der Kunde eine sehr begrenzte Auswahl hat. Und nachdem er dieselbe Erfahrung irgendwann bei allen Anbietern gemacht hat, ist er wieder beim Ersten. Solche Branchen werden weniger. Zur Frage, wie der Kundenservice der Zukunft aussieht, werden wir uns in diesen oft noch oligopolistischen Branchen wahrscheinlich die wenigsten Inspirationen holen können.

Jens Bormann: Ein Großteil der Innovationen der Vergangenheit kommen aus oligopolistischen Strukturen, wie der Telekommunikation. Die waren immer Vorreiter, weil der Kostendruck sehr hoch ist.

Iris Gordelik: Meine Führungskräfte habe ich am liebsten aus der Telko-Branche rekrutiert. Weil die für jede Nicht-Telko-Branche immer noch am innovativsten waren.

Uwe Lamnek: Die Frage ist, ob schlechter Service schadet. Nun haben wir niemanden von O2 hier. Ich glaube, die letzten Monate haben sich bei O2 nicht gut entwickelt, zum Beispiel wenn wir über Churn reden. Und ich glaube, dass man mit anderen Mitteln versucht hat, sehr viel wiedergutzumachen. Es sind Produkte zu Preisen herausgehauen worden, angesichts derer man sich fragt, ob die auch ohne Krise so platziert worden wären. Da liegt ein Riesenschaden vor.

Ich möchte einen Punkt noch einmal strapazieren. Wir haben ein paar Namen genannt, bei denen wir das Gefühl haben, dass die Produkte so gut sind, dass keiner anrufen muss. Für Apple kann ich es nicht sagen, aber für andere Namen weiß ich: Deren Customer Service wird nicht von Monat zu Monat kleiner, sondern da wird aufgebaut – besonders im Recruiting, um gute Experten zu bekommen. Ich sage ganz absichtlich nicht „Agenten”, sondern „Experten”. Zum Beispiel im Kundensegment SMBs – Small and Medium sized Businesses – brauchen Sie heute keinen Agenten hinzusetzen, da muss auf Augenhöhe mit dem Kunden geredet werden. Der Bedarf an solchen Experten schrumpft nicht, im Gegenteil.

Iris Gordelik: Beratung auf Augenhöhe wird immer gebraucht werden. Es treten ja auch neue Unternehmen auf, wie zum Beispiel Outfittery, die innovativ sind und sich des Internets bedienen – die denken alle in Kundenservice, aber viele von denen kennen die alten Dienstleister gar nicht. Die besuchen auch nicht die Call Center World. Die kommen gar nicht auf die Idee, Menschen, die gelernt haben, einfache Anfragen in einer durchschnittlichen Zeit von bitte maximal 180 Sekunden zu beantworten, ihre Kunden bedienen zu lassen.

Die neue Haltung

Vera Hermes: Der Kundenservice der Zukunftsetzt eine hohe Kundenkenntnis voraus. Und somit Big Data und eine komplexe, vernünftige IT-Struktur …

Jens Bormann: … was sonst. Aber das ist eben noch nicht die Realität …

Vera Hermes: … das wäre jetzt genau meine Frage gewesen …

Gerd Robertz: … da möchte ich aber einmal ganz energisch einschreiten. Das mag in den meisten Unternehmen noch nicht die Realität sein. Wahrscheinlich sogar auch nicht in denen, die es nach außen so darstellen. Wer hinter die Fassade schaut, der wird schnell merken: Big Data ist einfach noch in einer Entwicklung, auch bei Unternehmen, die es heute schon relativ gut machen.

Das heißt aber nicht, dass man deshalb nicht anfangen sollte, sich schon im Sinne eines nachhaltigen Einsatzes von Big Data zu verhalten. Das ist, als würde man eine Diät machen. Im ersten Schritt muss man sich schlank denken. Wenn man anfängt und sagt: „Naja, ich esse jetzt eine halbe Kartoffel weniger“, wird das nichts. Man muss den Gedanken erst für sich erfassen und verinnerlichen, dann wird der Rest des Weges viel leichter sein. 99 Prozent der Unternehmen haben deutlich mehr Daten zur Verfügung, als sie nutzen. Ab dem Moment, in dem sie diese nutzen, können sie es zum Wohle des Kunden tun. Da trauen sich aber viele noch nicht heran. Oft lautet das Argument „Wir sind halt noch nicht so weit.“ Aber wir müssen versuchen, den Grundgedanken dahinter, den Spirit von Daten-basierten Prozessen, trotzdem zu leben. Damit die Organisation anfangen kann, sich in diese Richtung zu bewegen.

Jens Bormann: Ich bin 100 Prozent Ihrer Meinung, dass jeder Tag der vorübergeht, an dem Unternehmen nicht viel mehr in Kunde denken, ein ganz, ganz schlimmer Tag ist. Denn die Uhr tickt. Und jeden Tag, den Gott werden lässt, wächst die Erwartungshaltung von jedem einzelnen Kunden ein bisschen mehr. Und da sind wir bei der Frage: Wer sind die Verhinderer? Und wer sind die Enabler, um das Unternehmen in eine neue Kultur, in eine neue Denke, in ein neues Produkt- und Markenverständnis zu bringen. Noch einmal: Ob der Typ CCO heißt oder wie auch immer: Unternehmen brauchen eine andere Haltung.

Iris Gordelik: Aktuell haben wir eine Phase der extremen have’s und not-have’s, der alten Welt und der neuen Welt, der analogen und der digitalen. Und auch, wenn ich eben gesagt habe, es gebe noch zu wenige Führungskräfte, die kundenzentriert denken, so gibt es sie aber. Wenn sich diese Kandidaten in Unternehmen vorstellen, die not-have’s sind, lautet ihre Absage anschließend: „Da verschwende ich meine Zeit, die bringen mich nicht weiter. Da wird heute noch darüber diskutiert, ob Führungskräfte am Wochenende Zugang zu ihren Mails haben dürfen. Entschuldigung, warum soll ich da arbeiten?“ Und deswegen gebe ich Ihnen vollkommen Recht: Es ist eine Kulturfrage. Und wer nicht möglichst schnell erkennt, wie nötig es ist, einen Change-Prozess anzustoßen und alte Zöpfe abzuschneiden, der wird es schwer haben.

„Oh mein Gott, wir werden alle sterben”

Jens Bormann: Die Unternehmenskultur entscheidet, ob Unternehmen die richtigen Potenzialträger bekommen.

Gerd Robertz: Hier kommt die Strukturfrage wieder ins Spiel. Denn wenn die Bewerber mit dieser Denke das Gefühl haben, sowieso nichts bewirken zu können, weil da ein CTO sitzt, der keine Kunden-Denke hat und das Unternehmen vollkommen technikgetrieben ist, dann wird man den Veränderungsprozess im Keim ersticken. Wenn da ein Bremser sitzt, dann wird es nichts.

Uwe Lamnek: Ich würde gerne einmal auf die Unternehmen schauen, die sich hinstellen und sagen: „Wir haben ein klares Commitment, wir wollen einen tollen Kundenservice machen, wir gehen weg von CRM hin zur Customer Experience.” Ich treffe auch dort oft auf Manager, die nach ganz alten Ansätzen arbeiten. Sie kommen aus einer Welt, in der man versucht hat, den Kunden zu verstehen, indem man die Kontaktgründe von gestern anschaut. Die Zeiten sind vorbei. Der Punkt ist: Man muss so eine Customer Experience, eine Journey, erst einmal verstehen. Diese Manager haben sich alles Mögliche an Technik hingestellt und stellen plötzlich fest, dass Kontaktgründe von gestern und ähnliche eindimensionale Betrachtungsweisen nicht ausreichen, um Kunden zu verstehen. Also müssen sie über Big Data nachdenken. Da reden Sie ganz schnell über ein Projekt, das einige hunderttausend Euro kostet. Da sagt der Controller: „Oh mein Gott, wir werden alle sterben” und „Rechnet sich so etwas überhaupt?”

Wir wollen ja über die Zukunft reden. Aber wie wollen wir über die Kür reden, wenn viele nicht mal die Pflicht beherrschen? Das Profil ändert sich, die Leute sind teilweise schlichtweg überfordert. Es ist auch nicht einfach. Früher wurde angerufen und es wurden E-Mails geschickt. Heute sind das lediglich zwei von vielen Kanälen.

Mit dem Lufttaxi zum Flughafen

Vera Hermes: Was sollten all die Service-Experten ganz konkret tun, um auch in Zukunft bestehen zu können, welchen Tipp geben Sie unseren Leserinnen und Lesern mit auf den Weg?

Iris Gordelik: Jeder, der den Kundenvirus hat, oder einfach ausgedrückt: wer Kunden liebt und was dafür tut, diese Liebe zu befeuern, der wird auch in den nächsten Jahren nicht einsam bleiben. Das ist es im Grunde genommen.

Uwe Lamnek: Auch in Zukunft wird, neben aller Technik, der persönliche Service im Vordergrund stehen. Der Service muss zudem vor allem flexibel in Bezug auf die Kundenanliegen und er muss mobil sein. Dafür müssen wir unsere Servicemannschaften fit machen.

Gerd Robertz: Die technische Entwicklung wird in Zukunft einen viel besseren Kundenservice ermöglichen. Der Kunde wird stärker eingebunden und auf Augenhöhe partizipieren – an der Produktentwicklung genauso wie an der Ausgestaltung der Marke. Das ist eine tolle Perspektive für uns alle. Sie erfordert aber, dass Unternehmen sich diesen Möglichkeiten bewusst stellen und bestimmte unternehmensinterne Weisheiten hinterfragen. Ich bin sehr optimistisch, dass wir in Zukunft viel mehr Unternehmen haben werden, die diese Grundentscheidung für sich dahingehend treffen, dass sie den Kunden als Partner sehen.

Jens Bormann: Nie zuvor war Customer-Excellence möglich, so wie sie heute möglich ist. Das eröffnet unglaubliche Chancen und wird das existenzentscheidende Differenzierungspotenzial sein.

Vera Hermes: Eine allerletzte Frage: Welchen Service wünschen Sie sich ganz persönlich für das Jahr 2030?

Iris Gordelik: Ein bestimmter Service? Ich will überall auf der Welt, selbst im kleinsten Dorf einen guten Internetzugang haben.

Jens Bormann: Ich hoffe, dass wir nicht in völlige Abhängigkeit von Servicemaschinen geraten. Ich möchte frei sein in der Entscheidung und Dinge selber machen können. Ich hoffe, dass wir nicht damit, dass wir alles automatisieren und über KI stützen, unselbstständig und zu Narren der steuernden KI werden.

Uwe Lamnek: Also, ich wünsche mir eigentlich einen ganz neuen, viel flexibleren Mobilitätsservice. Es wäre mein persönlicher Wunsch, eine ganz andere Mobilität zu erfahren.

Iris Gordelik: Ich habe noch einen Wunsch: Ich habe mein Haus in Buxtehude und möchte unbedingt mit dem Lufttaxi von Buxtehude zum Hamburger Flughafen gefahren werden. Und zwar möglichst in den nächsten fünf Jahren.

Gerd Robertz: Ich wünsche mir, dass ich mich im Jahr 2030 nie mehr mit Technik herumschlagen muss. Dass die Technik mich so intuitiv ergänzt und unterstützt, dass sie mein Leben besser macht – und nicht an vielen Stellen erstmal schlechter, bis ich sie dann tatsächlich nutzen kann.

 

Bildquelle runder Tisch:

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Runder_Tisch_Ritten.jpg Martin Geisler

 

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