SCHNELLE HELFER

2020-11-27T17:33:19+01:0015. September 2015|Tags: |

Sie sind Konfliktlöser der ganz besonderen Art: die Disponenten in den Rettungsleitstellen. Wählt ein Mensch die 110 oder 112, geht es mitunter um Leben und Tod. Für die Retter am Telefon bedeutet das: präzise fragen, Hektik rausnehmen und mitunter sehr, sehr wertvolle Hinweise geben.

RETTUNGSDISPONENT: Wo sind Sie? Wie ist Ihr Name?

VERZWEIFELTE MUTTER: Sabine Mustermann, In der Mustergasse 1. Mein Kind läuft blau an, es erstickt, es ist zwei Jahre alt, helfen Sie mir.

Disponent prüft in der Datenbank die Plausibilität der Adresse und veranlasst sofort, dass ein Notarztwagen losfährt.

DISPONENT: Der Notarzt wird in wenigen Minuten bei Ihnen sein. Hat Ihr Kind etwas gegessen?

MUTTER: Einen Apfel.

Der Disponent ist medizinisch top geschult. Er weiß: Bei Erstickungen geht es um Minuten. Deshalb erklärt er der Mutter detailliert das sogenannte Heimlich-Manöver, einen speziellen Handgriff, der als Erste-Hilfe-Maßnahme bei Erstickungsgefahr gesetzt wird, um Menschen mit einem Fremdkörperverschluss der Atemwege zu helfen. Der Handgriff funktioniert, das Kind kann wieder atmen. Ohne den Hinweis des Disponenten wäre es bis zum Eintreffen des Notarztes gestorben. Ruhe vermitteln, Vertrauen aufbauen und wichtige Informationen blitzschnell abfragen und an die richtige Stelle weitergeben – das ist die Aufgabe von Disponenten in Rettungsleitstellen. Sie müssen unter einem extremen Zeitdruck richtig reagieren, müssen souverän sein, beim Anrufer Stress abbauen und kommunizieren, bis das Einsatzfahrzeug eintrifft. Blinken mehrere Notrufleitungen gleichzeitig – und es kommt durchaus vor, dass ein einziger Disponent 30 bis 40 Leitungen betreut – muss er die Notrufe so schnell wie möglich abarbeiten; minutenlanges Reden wäre in solchen Fällen vielleicht für jemand anderen tödlich. Die Gespräche dauern in der Regel 30 bis 40 Sekunden.

Wobei es manchmal eben doch vorkommt, dass die Disponenten länger mit den Anrufern sprechen, etwa bei dem Fall mit dem Kind, oder wenn dem Anrufer zum Beispiel bei Familienstreitigkeiten unmittelbare Gefahr droht – dann bitten die Disponenten, das Telefon auf „laut“ zu stellen, damit der Angreifer mithört, dass Hilfe unterwegs ist. In der Regel ergreift er dann die Flucht. Ende der 1960er Jahre gab es nur in ein paar westdeutschen Großstädten die Notrufe 110 und 112. Die Telefone an den deutschen Autobahnen dienten den Autobahnmeistereien als Betriebstelefone. An Bundes-, Landes- und Kreisstraßen gab es keine Notrufmöglichkeiten. Krankentransporte hatten noch keinen Funk. Es gab keine schnelle, koordinierte Rettungskette.

Dieser Mangel wurde dem achtjährigen Björn Steiger am 3. Mai 1969 zum Verhängnis: Nach einem Verkehrsunfall dauert es fast eine Stunde, bis der sofort nach dem Unglück gerufene Krankenwagen bei dem Jungen eintrifft. Björn stirbt nicht an seinen Verletzungen, er stirbt am Schock. Seine Eltern Ute und Siegfried Steiger gründen daraufhin in Winnenden die Björn- Steiger-Stiftung. Das erklärte Ziel des gemeinnützigen Vereins: die Notfallhilfe in Deutschland aufzubauen und die Rettungskette nach Unglücksfällen deutlich zu beschleunigen. Seitdem hat die Stiftung Großes geleistet. Zum Beispiel dafür gesorgt, dass hierzulande ein flächendeckendes Notrufsystem und staatliche Zuständigkeiten im Rettungswesen überhaupt existieren; sie setzte sich dafür ein, dass Bundes-, Landes- und Kreisstraßen mit Notruftelefonen bestückt wurden, initiierte in den 1970ern den münzfreien Notruf und das bundesdeutsche 24-Stunden-Notarztsystem, engagierte sich für die bevorrechtigte, gebührenfreie, länderübergreifende Notrufnummer 112, die heute nicht nur in allen EU-Staaten, sondern auch in Andorra, Simbabwe, Vatikanstaat oder den USA gilt; in den 2000ern veranlasste die Stiftung die erste kostenlose Handy-Ortung im Notfall, sorgte im Rahmen der Initiative „100.000 Leben zu retten“ dafür, dass ehemalige Notruftelefone zu Säulen mit Laien-Defibrillator umgerüstet werden, oder mit der Aktion „Retten macht Schule“, dass in einer jährlichen Unterrichtsstunde alle Siebtklässler in Deutschland zu Lebensrettern ausgebildet werden.


1 WO ist es passiert?

2 WAS ist passiert?

3 WIE VIELE Verletzte oder Erkrankte sind betroffen?

4 WELCHE Verletzungen/Erkrankungen liegen vor?

5 WARTEN auf Rückfragen

Die 5 Ws sind eine wichtige Gedächtnisstütze. Sie helfen, in der Notfallsituation einen kühlen Kopf zu bewahren.


Inzwischen werden, abgesehen von den Autobahnen, die deutschen Notrufsäulen wieder abgebaut – wegen der Mobiltelefonie werden sie kaum mehr genutzt. Auch die Autobahnnotrufsäulen dürften bald Geschichte sein: Nach dem Willen der Europäischen Kommission sollen ab dem 31. März 2018 alle neuen Autos mit einem bordeigenen System zur Versendung von eCalls ausgestattet sein. Löst der Airbag aus, wird sofort per Mobilfunknetz die örtlich zuständige Notrufabfragestelle informiert und ein sogenannter Minimaldatensatz übertragen, der die Positionsdaten des Unfallfahrzeugs enthält. Zudem wird ein Anruf zwischen Fahrzeug und Notrufabfragestelle aufgebaut. Fahrer von Mercedes, BMW oder Audi kommen schon heute in den Genuss dieses – bei einem Unfall eventuell sehr wertvollen – Services, denn die Hersteller unterhalten entsprechende Call Center. Davon können die Disponenten in den Rettungsleitstellen bis- lang nur träumen: „Wenn Leute über den Mobilfunk anrufen, können sie oft nicht genau sagen, wo sie sind. Der Mobilfunk ermöglicht zwar eine zellgenaue Ortung, die darf aber zurzeit nur die Polizei durchführen, denn das ist ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte“, sagt Klaus Dietrich, Leiter für medizinische Ausbildung bei der Björn-Steiger- Stiftung. Also müssen die Disponenten durch geschickte Fragen eruieren, wo sich der Anrufer befindet.

Schwierig wird es, wenn ein Wanderer im Gebirge verunglückt und der Anrufer nur sagen kann, zu welcher Hütte er unterwegs war, oder auch bei Waldarbeiterunfällen mit Motorsäge. Schwierig wird’s aber nicht nur in einsamen Gegenden: Ist ein Amokläufer unterwegs oder sind Detonationen zu hören, rufen sehr viele Menschen via Handy gleichzeitig an. In den Rettungsstellen blinken dann sämtliche Leitungen. Zwar können auch diese Menschen oft nicht sagen, wo genau sie sind, da aber so viele Anrufe eingehen, lässt sich der Ort des Geschehens schnell ausfindig machen. Dafür fragen die Disponenten zum Beispiel nach markanten Gebäuden im Blickfeld. Die Leitstellen haben dann unter Umständen 30, 40 Anrufe zum gleichen Notfall. Die Aufgabe lautet: akute Gefahrenabwehr. Dabei geht es nicht um psychologische Betreuung wie in der Notfallseelsorge oder um Krisenintervention, sondern um sehr zeitkritische Einsätze. Bis zu 200 Einsatzfahrzeuge koordiniert ein Disponent an einem Vormittag; in der Regel haben die Disponenten vorher selbst im Rettungsdienst gearbeitet und verfügen über eine entsprechende Qualifikation, sind also zum Beispiel Rettungssanitäter oder Rettungsassistenten oder verfügen über eine feuerwehrtechnische Ausbildung. Sie haben große Routine in dem, was sie tun – und sind, wenn man so will, hervorragende Konfliktlösungsmanager.

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