Liebe Leserin, lieber Leser, wir müssen jetzt tapfer sein, denn es ist gut möglich, dass uns Menschen die vierte große Kränkung bevorsteht.
Die ersten drei schmerzlichen Einschnitte formulierte Freud vor gut 100 Jahren: Demnach ereilte uns zunächst die kosmologische Kränkung, nämlich als sich herausstellte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Alls ist. Für diese Erkenntnis bezog Kopernikus mächtig rhetorische Prügel. Die zweite Kränkung brockten uns dann Darwin & Co ein, sie ist biologischer Natur: Ganz gegen unser Empfinden stammen wir von einem affenartigen Vorfahren ab und sind unter DNA-Gesichtspunkten nichts Besonderes. Als wäre das nicht schon genug, fügte uns Freud die dritte, die psychologische Kränkung zu: Wir sind gar nicht Herr unserer selbst, sondern zum Gutteil ein Spielball unseres Unbewussten. Der Aufschrei war jeweils laut, doch man darf behaupten, dass sich die Menschheit im Großen und Ganzen ganz gut mit diesen Erkenntnissen arrangierte. Das sollte uns Vorbild sein, wenn uns die vierte Schmach bewusst wird. Professor Sabina Jeschke, Physikerin, Mathematikerin, Informatikerin, außerdem Spezialistin für Künstliche Intelligenz (KI) im Maschinenbau an der RWTH Aachen, spricht von der intellektuellen Kränkung, die da lautet: Es gibt intelligentere Wesen als uns Menschen. Und schiebt auch gleich die Frage nach: „Vielleicht ist das auch gar nicht so schlimm?”
20 MINUTEN SCHADENFREUDE
Werfen wir nur mal einen Blick auf das von Google DeepMind entwickelte Computerprogramm AlphaGo. Das tut nichts anderes, als das extrem komplexe Brettspiel Go zu spielen, dafür wurde es trainiert. AlphaGo trat im März 2016 gegen den Südkoreaner Lee Sedol an, einen der Besten seines Fachs. Sie ahnen: Die Maschine hat gewonnen. Einen solchen Durchbruch hatte die KI Szene frühestens in fünf bis zehn Jahren erwartet. Bemerkenswert ist indes nicht nur dass, sondern vor allem wie dieser Sieg vonstattenging, sagt KI-Expertin Jeschke. AlphaGo habe sich zunächst Spiele der Vergangenheit angeguckt und dann seine neuronalen Netze aktiviert und selbstständig erweitert. „Die Engine hat anders gespielt, als sie trainiert wurde; sie hat angefangen zu spekulieren, ist nach links und rechts ausgebüxt und hat scheinbar absurde Dinge gemacht. Teilweise sah das für die Go-Master richtig dämlich aus. 20 Minuten herrschte Schadenfreude. Dann hatte sie gewonnen.
Okay, werden nun einige sagen, lass doch die Maschinen Brettspiele gewinnen, was geht’s mich an? Der Punkt ist bloß: Beim Spielen wird es nicht bleiben. IBMs kognitives Computersystem Watson zum Beispiel ist für die Krankenhauskette Rhön-Klinikum als Assistenzarzt im Einsatz, für die Versicherungskammer
Bayern erledigt es das Beschwerdemanagement und im Hilton McLean in Virginia pampert es unter dem Namen Connie als Concierge die Gäste. Künstliche Intelligenz kann Kurzgeschichten schreiben, Musik komponieren, Filme schneiden, Maschinenteile entwerfen, Finanztipps geben, Rechtsgeschäfte abwickeln, Personal auswählen, ja, sie kann sogar träumen und noch so vieles mehr. Die Idee, dass wir Menschen dem Computer zumindest noch in puncto Kreativität überlegen sein könnten, können wir getrost zu Grabe tragen.
EIN BISSCHEN WIE KINDER
Derzeit, sagt Sabina Jeschke, ist der Mensch das intelligenteste System, das wir kennen. Hohe Intelligenz scheint jedoch mit einer gewissen Intransparenz des „Wie” einherzugehen. Treppensteigen ist dafür ein super Beispiel, denn es erfordert viele Fähigkeiten. Derer sind wir uns aber nicht bewusst. Würden wir während des Treppensteigens über dessen detaillierten Ablauf nachdenken – also welcher Muskel genau was wann tut –, würde das eine enorme Informationsflut auslösen und wir würden stürzen. Echtzeitfähiges Handeln wäre nicht möglich. „Wir beherrschen viele Dinge mit hoher Perfektion, ohne genau zu verstehen, wie sie eigentlich funktionieren. Das ist ein Zeichen höchster Intelligenz. Also ist es kein Wunder, dass KI genauso funktioniert.” Nun beschleicht einen ein mulmiges Gefühl. Zumal, wenn Sabina Jeschke sagt, selbstlernende Maschinen seien ein bisschen wie Kinder: Man könne ihnen Werte mitgeben, eine Art „ethischen Rahmen“ – man denke nur an die Asimov-Gesetze für Roboter – wie aber die Systeme agieren, um diese zu befolgen, also der konkrete Lösungsweg, sei deren Sache. Heißt das, fragt man sich bange, dass die Konstrukteure und Entwickler ihre selbstlernenden Produkte ab einem gewissen Wissenszuwachs nicht unter Kontrolle haben? Professorin Jeschke lacht. Und erwidert: „Informatiker haben im Leben noch nicht daran geglaubt, dass sie ihre Systeme kontrollieren! Während Ingenieure noch beim kleinsten Spaltmaß keine Abweichung dulden, arbeiten Informatiker eher nach dem Motto: System, mach, so schnell du es kannst und so gut, wie du es kannst; dann schauen wir, was dabei herauskommt. Wir wissen, dass wir keine volle Kontrolle haben. Aber unsere Lösungen sind gut!” Schluck.
„Ich glaube, diese „postfaktische” Diskussion, die wir derzeit haben, rührt daher, dass viele Menschen unterbewusst merken, dass uns ein Verlust an Privilegien und Macht bevorsteht – und das führt zu den Realitäten, die wir heute beobachten.” Professorin Dr. Sabina Jeschke vom Cybernetics Lab der RWTH Aachen University. Unser Tipp: Schauen Sie sich unbedingt mal ihre Vorträge im Web an – ein kluges, erhellendes Vergnügen!
WENIGER TOTE, MEHR GERECHTIGKEIT
Dr. Frank Steinicke ist Professor für Human-Computer Interaction an der Uni Hamburg. Er ist sich sicher: Künstliche Intelligenz wird Fehler machen: „Auch ein Algorithmus kann irren, aber er wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger oft irren als ein Mensch.” Nehmen wir als Beispiel das Autonome Fahren: Tödliche Unfälle wird es auch mit selbstfahrenden Autos geben. Es wird ein Aufschrei der Entrüstung folgen. Dann wird man vergleichen und feststellen, dass sich die Zahl der Verkehrstoten bei autonomem Verkehr verringert, so Steinickes Prognose. Dass sich diese Form der Mobilität durchsetzen wird, steht für ihn außer Frage.
Frank Steinicke kann sich nicht vorstellen, dass sein heute eineinhalbjähriger Sohn mit 18 noch einen Führerschein wird machen müssen. (Womit also auch die Fahrschulen angezählt sind.) Wir könnten übrigens schon längst autonom fahren, wenn nicht erstens die Rechtsprechung der Technik weit hinterherhinken und wir uns nicht alle so verdammt fest an unsere lieb gewordene Kontrolle klammern würden. Wobei sich die Angst vor Kontrollverlust interessanterweise meist aufs Lenken eines Autos beschränkt – für Flugzeuge mit ihren Autopiloten gilt sie in der Regel nicht. Auch in der Rechtsprechung oder medizinischen Diagnosen wird die KI weniger Fehler begehen als Richter und Staatsanwälte oder Ärzte. Moment mal: Recht und Gerechtigkeit sollen in der Hand einer Maschine liegen? Informatiker Steinicke erwidert: „Ist es besser, wenn sie in der Hand eines Menschen liegt?”
Und er kommt auf den „Bias” zu sprechen, die unbewussten Einflüsse, die uns alle so fehleranfällig machen. Es ist ja nachgewiesenermaßen so, dass zum Beispiel in den USA Afro-Amerikaner härtere und längere Strafen aufgebrummt bekommen als weiße Amerikaner; oder dass Menschen mit arabisch klingenden Namen in Deutschland bei Bewerbungsverfahren benachteiligt werden. Oder dass Frauen bestimmte Tätigkeiten und Taten weniger zugetraut werden als Männern. Kognitive Computersysteme können eben ohne Ansehen der Person Millionen Rechtsfälle vergleichen, Gesetze berücksichtigen und zu einem Urteil kommen. Vielleicht ist die Maschine als total neutrale und objektive Instanz tatsächlich die bessere Justitia oder Human-Resources-Managerin? Sie ist auf jeden Fall enorm schnell, kann beispielsweise in der Krebserkennung in kürzester Zeit Millionen Daten auswerten und eine Diagnose stellen beziehungsweise eine Behandlungsempfehlung an die Ärzte aussprechen. Was für ein Segen.
„Dual Use” nennen Wissenschaftler eine Technik, die sowohl zum Vorteil als auch zum Nachteil der Menschen gereicht. Paradebeispiel ist das Messer, mit dem man ebenso gut Brot schneiden wie jemanden abstechen kann. Wir ächten das Messer nicht. Oder nehmen wir die Atomtechnik. Lange Zeit hielt die Gesellschaft sie für eine große Errungenschaft, bis sie Hiroshima und Nagasaki und später dann Tschernobyl und Fukushima eines Besseren belehrten. Auch KI, so viel ist klar, kann Gutes und Schlechtes bewirken. Aber kann man sie auch ausbeuten, missbrauchen, erniedrigen, quälen? Tatsächlich wird heute schon diskutiert, ob nicht auch Roboter Rechte haben sollten oder ob die Menschen mit ihnen tatsächlich machen dürfen, was immer sie wollen. „Das klingt noch nach Spinnerei”, räumt Professor Steinicke ein; dass diese Diskussion aber keineswegs abwegig ist, zeigt spätestens die Arbeit seines Kollegen Hiroshi Ishiguro an der Universität in Osaka. Der in den Medien als „Weltstar der Robotik” titulierte Wissenschaftler kreiert Androiden. Er hat zum Beispiel einen Doppelgänger von sich selbst geschaffen (googeln sie ihn mal, das ist beeindruckend). Ishiguros Ziel: die Differenz zwischen Mensch und Roboter aufzuheben und Roboter mit menschlichem Bewusstsein zu schaffen. Ishiguro ist überzeugt: „Sie werden unsere Freunde sein.” Sollte der Japaner erfolgreich sein, brauchen Roboter dringend Rechte, oder?
Professor Dr. Frank Steinicke vom Department of Informatics der Universität Hamburg. Er wollte einfach wissen, ob man irgendwann glaubt, diese Welt sei echt: Als vor gut drei Jahren die erste einigermaßen komfortable Virtual Reality-Brille entwickelt wurde, unternahm Frank Steinicke den ersten wissenschaftlichen 24-Stunden-Selbstversuch in der virtuellen Welt. Sein Fazit: Er habe nicht mal beim Aufwachen eine Millisekunde geglaubt, er befände sich in der Realität. Allerdings: Die Technik wird immer besser.
WIR WERDEN SIE LIEBEN
Roboter werden ganz sicher unsere Freunde sein, glaubt auch Frank Steinicke und begründet seine Einschätzung einleuchtend: „Unser Hirn hat in den vergangenen 200.000 Jahren nicht zwischen einer realen und einer virtuellen Welt oder zwischen Mensch und Roboter unterscheiden müssen. Die Welt, in die man geboren wurde, war dieselbe, in der man starb. Erst seit drei, vier Generationen ändert sie sich rasant. Meine Prognose: Unser Hirn wird gar nicht in der Lage sein, zwischen einem Menschen und einem Roboter, der aussieht wie ein Mensch, zu unterscheiden.” Menschen reagieren auf Reize, also werden wir den Roboter lieben, wenn er so aussieht, so riecht und sich so anfühlt wie ein Mensch. Und na klar: Wir werden Roboter schon deshalb mögen, weil sie uns im Alltag helfen, uns lästige Aufgaben abnehmen, für uns kochen – oder mit uns Sex haben. Zu diesem Thema fand im Dezember 2016 in London eigens die Konferenz „Love and Sex with Robots” statt. Experten sind überzeugt, dass Sex-Roboter eine sehr nachgefragte KI Anwendung sein werden. Und wieder drängt sich die Frage auf, ob Roboter Rechte haben sollten.
WIR MÜSSEN UNS NEU ORGANISIEREN
Es steht völlig außer Frage, dass KI unsere Gesellschaft nachhaltig ändern wird. Je nachdem, wen man fragt, werden in Deutschland ein Drittel oder auch die Hälfte aller Arbeitsplätze wegfallen. Global sieht’s wahrscheinlich nicht anders aus: In China, derzeit die Werkhalle unserer Welt, plant Foxconn – derzeit die größte Elektronikschrauberei unserer Welt – 300.000 von seinen dort 400.000 arbeitenden Menschen durch Roboter zu ersetzen. Laut dem Digitalmagazin t3n arbeiten bei Amazon heute schon neben 230.000 Menschen rund 30.000 Lagerroboter. Der Sorgfalt halber sei gesagt, dass es auch Experten gibt, die einen Jobzuwachs prognostizieren, weil jede industrielle Weiterentwicklung bislang für mehr als für weniger Arbeitsplätze sorgte – und für eine höhere Lebensqualität: Zukunftsforscher Matthias Horx schreibt im Zukunftsreport 2017: „Im Lauf der menschlichen Zivilisationsentwicklung hat die Automatisierung menschlicher Tätigkeit immer zu einer Drift in höhere Komplexität geführt – zu Emanzipationen und Befreiungen. Durch Maschineneinsatz wurden Millionen und Abermillionen Menschen befreit. Sie konnten ihre Bildung erhöhen, ihre Lebensweisen differenzieren, ihre Beziehungen vielfältiger leben.”
Diesmal könnte es zumindest in Hinblick auf die Zahl der Arbeitsplätze anders laufen. Schließlich können sich nicht alle LKW-Fahrer, Versicherungsmakler, Mechatroniker oder Call Center-Agenten zu Data Scientists, Computerlinguisten oder IT-Spezialisten wandeln. Sabina Jeschke ist überzeugt, dass wir über kurz oder lang über unser Gesellschaftsmodell nachdenken müssen. Und sie ist keineswegs pessimistisch, was unsere Zukunft betrifft: „Ein Blick auf die Menschheitsgeschichte zeigt, dass wir vor 20.000 Jahren auch nicht morgens um 8 ins Büro gegangen sind, und wir haben trotzdem überlebt!” Es sei fraglich, ob es die einzig sinnvolle Verwendung eines Menschen sei, Kindergarten, Schule und Uni zu besuchen, um sich für die Berufstätigkeit auszurichten. Heute dreht sich von Kindesbeinen bis zur Altersversorgung alles um Berufstätigkeit.
Entsprechend treibt Sabina Jeschke die Frage um, wie wir künftig unsere Kinder erziehen und ausbilden werden, wenn die jahrzehntelang gelernte strikte Fokussierung aufs Erwerbsleben entfällt. Was bietet Orientierung? Worauf richten wir uns aus? Wie gestalten wir Schule und Ausbildung? Bei den Antworten könnten vielleicht diejenigen helfen, deren Lebensentwürfe schon immer instabil waren: „Wir müssten Leute aus Theatern und Orchestern holen, denn sie mussten schon immer mit Unsicherheit umgehen”, überlegt Sabina Jeschke.
Wir haben die Wahl: Entweder wir betrachten KI als Bedrohung oder als Riesenchance. So oder so werden wir unsere Art zu leben und zu arbeiten überdenken müssen. Der Technikjournalist Ulrich Eberl schreibt: „Die Revolution der Roboter und der Systeme der Künstlichen Intelligenz, die gerade beginnt, wird uns Menschen am Ende vor allem zwingen, über uns selbst nachzudenken und uns neu zu definieren.” Er ist davon überzeugt, dass KI uns dabei helfen kann, „unsere Erde lebenswert zu erhalten”. Auch Sabina Jeschke sieht die Sache positiv; sie freut sich zum Beispiel darauf, dass ihr die KI bald viele Dinge abnehmen wird, die keinen Spaß machen. Was von uns bleibt, wenn wir einsehen müssen, dass andere Wesen intelligenter sind? „Eine Rückbesinnung auf das Ich und Selbst”, sagt die Wissenschaftlerin. Das sind doch gar keine schlechten Aussichten. Und die ersten drei Kränkungen haben wir ja schließlich auch überstanden.
FILMTIPP
Unbedingt sehenswert ist die Dokumentation von Klaus Marten „Schichtwechsel – Die Roboter übernehmen”, abzurufen in der ARD-Mediathek oder über YouTube https://www.youtube.com/watch?v=_zf7dIVT7rs
LESETIPP
In der ZEIT beschäftigt sich die Serie „Maschinenraum“ damit, wie sich die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) auf unser Leben, unsere Arbeitswelt und unser Menschsein auswirkt. Eine spannende Lektüre! http://www.zeit.de/serie/maschinenraum
Gleiches gilt für das Buch des ZEIT-und Wissenschaftsautors Ulrich Eberl: “Smarte Maschinen. Wie Künstliche Intelligenz unser Leben verändert.”
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