Think outside the box

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Mit Florian Senda startet unsere neue Kolumne „Think outside the box“, in der kluge Köpfe aus der Branche Trends, Thesen und Themen rund um Customer Service-Exzellenz skizzieren. Florian Senda, Gründungspartner und Geschäftsführer von ojuto consulting in Wuppertal, spricht vier Sprachen, ist weit gereist und ausgewiesener Outsourcing-Experte.

 

mit Florian Senda

Wie entwickeln sich die Nearshore-Märkte, Herr Senda?

 

Zu Beginn des Corona-Lockdowns in Europa wurden Grenzen geschlossen. Geschäftsreisen ins Ausland waren nicht möglich. Dennoch erhielten Call Center-Dienstleister mit Nearshore-Standorten vermehrt Anfragen von Auftraggebern. Da der Lockdown auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutscher Standorte betraf, mussten schnell Alternativen gefunden werden – egal wo.

 

Der Kampf ums Personal wird auch nach Corona anhalten, angefeuert durch den steigenden Mindestlohn. So bleiben die Vorteile einer Verlagerung – trotz steigendem Wohlstand in den Nearshore-Märkten – in Relation konstant und attraktiv. Nearshoring bleibt in den kommenden zehn Jahren eine ernsthafte Option für Unternehmen.

 

Auf den Reifegrad kommt es an!

 

Es lässt sich ein Quadrant aus dem Reifegrad des Auftraggebers (Outsourcing Know-how) und dem Preisdruck innerhalb der Branche bilden: Dort, wo Reifegrad und Preisdruck besonders hoch sind – etwa in den Branchen Travel oder Consumer Electronics –, orientieren sich die Unternehmen eher nach Osten. Unternehmen, die keine Erfahrung mit Outsourcing haben oder als Start-up noch ihr Produkt ausfeilen, sollten das Thema erst adressieren, wenn sie über stabile Prozesse verfügen. Nearshoring muss als Projekt mit klaren Strukturen aufgesetzt werden, sonst droht eine harte Bauchlandung!

 

Die Suche nach dem optimalen Standort

 

Um die zu enttäuschen, die jetzt eine Liste mit Standorten erwarten: DEN optimalen Standort gibt es nicht. Vielmehr ergibt sich der passende Standort aus der Komplexität der auszulagernden Prozesse und dem Basis-Know-how, das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitbringen müssen.

 

Der unschlagbare Vorteil von Nearshoring: Der Ruf der Call Center-Branche ist nicht verbrannt wie in Deutschland. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verdienen in der Regel den ortsüblichen Durchschnittslohn und oft mehr als Lehrer. Damit erschließen sich andere Perspektiven. Es muss allerdings ein nennenswerter deutschsprachiger Pool an Bewerberinnen und Bewerbern da sein. Universitätsstädte, Regionen mit Tourismus oder mit vielen Heimkehrern bieten sich dafür an.

 

Neue Standorte werden derzeit tendenziell weiter entfernt von Deutschland eröffnet, es findet eine West-Ost-Verlagerung statt: Wo früher Polen, Ungarn und die Slowakei interessant waren, geht es jetzt auf den Balkan oder sogar in den Kaukasus.

 

Nicht sinnvoll sind Standorte in Grenznähe zu deutschsprachigen Ländern: Wer in Polen unweit der deutschen Grenze lebt, pendelt nach Deutschland, um dort zu arbeiten.

 

Beim Nearshoring sollten Auftraggeber immer die Gesamtkosten betrachten: Gehaltskosteneinsparungen müssen mit den Kosten für die Steuerung des Standorts verrechnet werden. Dazu zählen auch Reisen an den Standort inklusive der Wegezeiten: Wenn schon zwei ganze Tage für die Reise verloren gehen, muss das Volumen ausreichend hoch sein, um diese unproduktive Zeit zu rechtfertigen.

 

Die Sache mit der interkulturellen Kompetenz

 

Zu guter Letzt unterschätzen Unternehmen immer wieder, dass auf mehreren Ebenen zwei Kulturkreise aufeinanderstoßen. Das Management im Nearshore-Land sitzt im Spagat zwischen den lokalen Arbeitsweisen und den Anforderungen der deutschen Auftraggeber an Steuerung und Weiterentwicklung. Missverständnisse, etwa über die Verbindlichkeit von Zusagen, entstehen. Zudem kommuniziert das Call Center-Team mit Menschen, die in Deutschland leben, gegebenenfalls ohne die deutschen Verhältnisse und Gebräuche zu kennen. Das führt dann häufig dazu, dass die Kundschaft hierzulande mangelnde Empathie beklagt oder das Service-Personal Redewendungen oder Sarkasmus nicht versteht. Wer einen Nearshoring-Standort eröffnen will, muss also einen erhöhten Trainingsbedarf einkalkulieren – und eine längere Lernkurve, bis die Qualität das gleiche Niveau deutscher Standorte erreicht. Gute Service-Center zeichnen sich durch regelmäßige, kulturelle Trainings aus, die zum Beispiel mit dem Goethe-Institut oder deutschen Schulen im Ausland durchgeführt werden.

 

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