Claudia_Sehr

Interview mit Claudia Sehr, Karrierechoaching & Digital Leadership

Claudia, nach meinem Newsletter Beitrag “Rente – Ende oder Anfang?” haben wir uns lange unterhalten und Du hast mir die erstaunliche Geschichte einer 60jährigen erzählt, die bei dir zur Berufsberatung war. Bisschen spät, oder?

Ich würde sagen, nicht zu spät, aber gerade noch rechtzeitig. Heidi ist 60, als sie zu mir kam und total unglücklich in ihrem Job. Sie leitet die Toxikologie in einem großen Pharmaunternehmen. Also eigentlich ein super Job und Karriere hat sie auch gemacht. Sie macht auf mich einen ruhigen, eher schüchternen und zurückhaltenden Eindruck. Daher war ich überrascht, als sie mir ihr Unglück beschreibt: “Nach meinem Biologie Studium wollte ich Abenteuer erleben, Herausforderungen bewältigen. Aber was ich heute tue, ist langweilig. So will ich die letzten Jahre meines Berufslebens nicht erleben”.  

In meinem Laufbahn- und Karrierecoaching wende ich verschiedene Methoden an, um Stärken, Kompetenzen, Wünsche, Interessen und  Sehnsüchte herauszuarbeiten. Heidi hatte sich in der Biographie Aufgabe ein Highlight ihres Lebens ausgesucht: sie wurde beruflich in die USA geschickt. Sie kam dort an und nichts war so, wie es geplant war. Der Mittelsmann, der alles organisieren sollte, war mit dem Geld von der Bildfläche verschwunden. Sie stand da ohne Wohnung und Geld. Statt zurückzukehren, setzte alles in Bewegung und hat es mit der Polizei geschafft, den Betrüger zu fassen. Hat sich eine neue Wohnung und Geldmittel besorgt und ist am Ende noch durch den Großteil der USA gereist und die schönsten Momente ihres Lebens erlebt.

„Wow“ sagte ich nur. Das hätte ich niemals von Heidi erwartet. Also haben wir aus dieser Erfahrung heraus Stärken und Kompetenzen erarbeitet. Das Ergebnis: Heidi hat eine überdurchschnittlich hohe Risikobereitschaft und liebt Herausforderungen. Ich frage sie dann „Denkst Du, dass Dir das jemand ansieht“? Ihre Miene verzog sich und sie sagte „Leider nein“.  Zusammen haben wir dann eine Strategie erarbeitet, wie sie abenteuerlustig, risikofreudig und mutig Herausforderungen anpackend wahrgenommen wird. Ein Punkt lautete: Mein Umfeld aktiv von meinen Wünschen und Leidenschaften erzählen. Sie erzählte bei nächster Gelegenheit ihrem Chef davon. Der bot ihr daraufhin ein Projekt im Ausland an. Wochen später ruft sie mich an und erzählt, wie happy sie ist.

Wirklich eine tolle Story. Ich glaube, es gibt viele Heidi´s. Was hält Menschen wie Heidi davon ab, sich aus einer unzufriedenen beruflichen Situation heraus zu bewegen?

Die Gründe können vielfältig sein. Manchmal sind es einfach Verpflichtungen wie Familie, Kinder, Eigentum oder einfach nur Gewohnheit, die uns bequem werden lässt. Da scheut man eher Veränderungen. Andere wiederum stecken in dem Glauben fest, zu alt für etwas Neues zu sein. Aber  mit zunehmendem Alter, wenn die Lebenszeit wertvoller wird, macht die Unzufriedenheit sich wieder Platz und schreit nach Veränderung. Bis dahin kann es aber oft viele Jahre dauern.

Und wenn diese Menschen bis dato nichts an ihrer Unzufriedenheit geändert haben, gehen sie auch unzufrieden in Rente?

Heidi war für  mich ein Auslöser zu erforschen, wie Menschen vor dem Ruhestand erfüllt arbeiten und dann glücklich in den Ruhestand gehen. Ich habe eine Interviewreihe dazu begonnen. Um es vorweg zu nehmen: Ich lag falsch mit meinem Glauben, dass es um “Ruhe” geht. Da war zum Beispiel Franz. Gleich zu Beginn sagte er mir: “Ach ja, der Unruhestand”. Bisher war ich davon ausgegangen, dass Menschen im Alter Ruhe finden wollen. 

Fakt ist jedoch, dass alle zufriedenen Personen in meinen Interviews sich sehr früh Gedanken gemacht haben. Franz erzählte: Mein Projekt hieß „Meine Reise in den Ruhestand“ und ich habe damit 5 Jahre vorher angefangen, weil ich mitbekommen habe, was mit Menschen passiert, die sich keine Gedanken darüber gemacht haben. Franz war Inhaber eines Verlages. Heute, in Rente und Dozent an einer Hochschule, wo er sein Wissen an junge Leute weitergibt. 

Es ist so wichtig, sich frühzeitig mit dieser Reise zu beschäftigen!

Was war mit den unzufriedenen Personen?

Auch diese Fälle hatte ich in meiner Interviewreihe. Renate, die während ihres Berufslebens fast nie krank war, verbrachte plötzlich die meiste Zeit bei Arztbesuchen. Andere wussten mit ihrer Zeit nichts anzufangen. Die Gefahr von sozialer Isolation und Vereinsamung mit Auswirkungen auf die mentale Gesundheit steigt enorm. Bluthochdruck, schlechte  Schlafqualität, erhöhtes Herzinfarktrisiko sind mögliche Folgen. Das wissen wir aus vielen Studien. Das geht bis zu Depressionen und Suizid.

Auf LinkedIn habe ich kürzlich Umfrage gestartet. Auf die Frage: “Wenn Du in Rente gehen kannst, was hast Du vor?” gab es folgende Ergebnisse: 

  • Rente und Ruhe genießen 10%

  • Rente und viel Zeit für Hobbys 48%

  • Ich arbeite weiter im Beruf 15%

  • Ich baue was neues auf(Arbeit) 28%

Also immerhin 58% wollen wirklich in Rente. Egal ob in Ruhe oder mit Hobbys. Was rätst Du ihnen also?

Früh – mindestens fünf Jahre vorher – an den folgenden Punkten arbeiten:

  • Sich klar werden, was man im Berufsleben und auch im Privatleben noch erleben möchte
  • Stets neues lernen und lernbereit bleiben, dazu gehört gleichwertiger Austausch mit jungen Menschen
  • Die eigenen Erfahrungen und Kenntnisse nutzen und weitergeben in einem Raum, der diese wertschätzt
  • Soziale Kontakte, auch außerhalb der Arbeit aufbauen und pflegen
  • Medienkompetenz aufbauen, wenn nicht vorhanden. Dies ist wichtig zum Austausch und um Chancen im Netzwerk zu erhalten
  • Klarheit über die eigenen Finanzen und die finanzielle Versorgung im Alter
  • Geistig und körperlich Fit sein

Sind Arbeitgeber nicht auch in der Pflicht, ihre in Rente-Gehenden zu begleiten?

Ein sehr wichtiger Punkt ist Iris. In der Tat haben meine Interviewpartner bemängelt, dass es seitens ihrer Arbeitgeber keine entsprechenden Programme oder Begleitung gab. Besonders hart getroffen sind die, die in Rente geschickt worden sind, also der Zwangsruhestand. Zum Beispiel durch Insolvenz oder Abbau Programme der Firma. Aber auch simple Dinge, wie sich nicht verabschieden können oder kein Angebot für Altersteilzeit. Bis hin zu Problemen am Ende der Tätigkeit, z.B. Mobbing oder fehlende Wertschätzung. Arbeitgeber können hier viel Gutes tun und damit gleichzeitig wichtiges Know-how in ihrem Unternehmen erhalten, zum Beispiel um neue Mitarbeiter oder Quereinsteiger schneller zu qualifizieren.  

Kommen wir zu den anderen 43%, also die, die weiter in ihrem Beruf arbeiten oder etwas Neues aufbauen wollen. Immerhin keine kleine Zahl. Deckt sich das mit deiner Studie?

Auf jeden Fall. Franz ist heute Dozent, das sagte ich schon. Und Heidi plant mit ihrem Arbeitgeber darüber zu verhandeln, speziell für schwierige Auslandsprojekte als Beraterin weiter tätig zu sein, wenn die Rente ansteht. Mit zwei meiner Klienten erarbeite ich gerade, was sie Neues tun können. Quasi eine Karriereberatung über das “gesetzliche” Berufsleben hinaus. Das Mindset dieser Personengruppe kennt kein Ende mit Rente.

Was würdest Du dieses Mindset beschreiben?

Wichtigstes Merkmal ist die dauerhafte geistige und körperliche Beweglichkeit. Alle diese Menschen sind gut vernetzt, engagieren sich, diskutieren und bilden sich laufend weiter. Sie ernähren sich gesund und machen Yoga, Laufen oder einen anderen Sport. Oder wie ich gern sage: “Turne bis zur Urne.”

Ein schöner Schlusssatz, der zeigt, dass die Rente kein Ende bedeutet. Und es nie zu spät ist, sein Leben zu ändern und einen positiven Sinn zu geben. Ich danke Dir Claudia für das Interview.  

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