Vormacher

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Ok, man kann sagen, dass es Estland in puncto Digitalisierung natürlich viel einfacher hat als Deutschland, schließlich wohnen in dem baltischen Staat nur rund 1,3 Millionen Menschen, also gut 100.000 weniger als in München. Das Land ist infrastrukturell auch viel besser zu erschließen, denn seine Fläche ist ein bisschen kleiner als die von Niedersachsen. Und Gebirge hat Estland auch nicht. Außerdem – ja, das könnte ein Argument sein – hatte Estland die Chance eines echten Neubeginns, als es sich 1991 von der Sowjetunion unabhängig erklärte. Aber, na ja, diese Chance hatten wir in Deutschland mit der Wiedervereinigung 1990 auch.

 

Schlussendlich haben die Esten einfach viel früher erkannt, wie wichtig die Digitalisierung für ihre Zukunft sein würde, haben einen klugen Plan gemacht und diesen Plan umgesetzt.

 

Ein Ergebnis: Estland liegt nicht nur regelmäßig in Digitalisierungsstudien vorne, sondern belegt auch hinter vier chinesischen Provinzen und Singapur den fünften Platz in der aktuellen PISA-Studie. Damit ist Estland der beste europäische Staat in dem OECD-Bildungsranking.

 

Die Esten gelten zudem als Europäer mit den besten Englischkenntnissen, ihre Wirtschaft wächst (2018: 3,9 %; Deutschland: 1,5 %) und sie sind gut ausgebildet (der Anteil der 30- bis 34-Jährigen mit Hochschulabschluss 2018 betrug 47,2 %; Deutschland: 34,9 %).

 

Die Bertelsmann Stiftung bescheinigte Estland 2019 unter 17 untersuchten Ländern den Spitzenplatz beim Digital Health Index – der kleine baltische Staat verfügt über den höchsten Digitalisierungsgrad im Gesundheitswesen. Die Gütersloher Forscher schreiben, was  erfolgreiche Länder vereine, sei „ein Dreiklang aus effektiver Strategie, politischer Führung sowie einer fest verankerten Institution zur Koordination des Digitalisierungsprozesses“.

 

Dies dürfte insgesamt auf die Erfolgsgeschichte der Digitalisierung in Estland zutreffen. Die begann 1997 mit dem sogenannten „Tiigrihüpe“, dem Tigersprung. Dieses Programm setzte klugerweise bei den Schulen an: Sie wurden mit Hard- und Software ausgestattet und erhielten allesamt Zugang zum Internet, Lehrer wurden qualifiziert und teilweise zu IT-Profis ausgebildet. Im gesamten Land wurden „Public Internet Points“ eingerichtet, die freien Zugang zu Rechnern und Internet boten, und: Das Parlament beschloss, ein E-State zu werden.

 

„Als Initialzündungen wurden und werden diese Programme konsequent weiterentwickelt und tragen das Land bis heute. Und vor allem sind sie die Grundlage dafür, dass Estland zu den technologisch fortschrittlichsten Ländern in der EU zählt“, resümiert die Bertelsmann Stiftung.

 

Heute haben die Estinnen und Esten einen digitalen Personalausweis und der „Behördengang“ dürfte für sie wie eine Vokabel aus einer längst vergangenen Zeit klingen. Nur wer heiraten, sich scheiden lassen oder eine Immobilie kaufen will, muss „zum Amt“. Alles andere – die Rede ist von gut 1500 digitalen staatlichen Dienstleistungen – lässt sich locker digital erledigen. Angeblich dauert die digitale Steuererklärung zwei Minuten (aber das ist eine ungesicherte Erkenntnis.) Das Recht auf kostenlosen Internetzugang ist sogar in der estnischen Verfassung verankert.

 

Für eine nachhaltige digitale Entwicklung ist gesorgt: Laut Deutschlandfunk wird in 90 Prozent der Schulen und 60 Prozent der Kindergärten IT unterrichtet. Schon die jüngsten Esten lernen ganz selbstverständlich programmieren … was ein Grund dafür sein dürfte, dass das Land immer wieder hervorragende IT-Start-ups hervorbringt. Vier Einhörner – also Start-ups, deren Wert auf über eine Milliarde Dollar geschätzt wird – sind estnisch: Skype, TransferWise, Playtech und Taxify/Bolt.

 

Das Politikmagazin Cicero führt noch einen weiteren Erfolgsfaktor an: Estland habe sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für ein Schulsystem entschieden, das auf Gleichheit und Fairness basiert. Nahezu alle Schulen würden mit dem digitalen Klassenbuch „E-kool“ arbeiten: „Die Lehrer tragen dort ein, was sie in einer Unterrichtsstunde behandelt haben, welche Hausaufgaben es gibt, wer gefehlt hat. Die Eltern können die Daten ihrer Kinder einsehen und dem Lehrer Nachrichten schicken oder Entschuldigungen hochladen. E-kool ist eine Informationsplattform, die von der estnischen Regierung entwickelt wurde.

 

Es umfasst das digitale Klassenbuch, ist Kommunikationskanal zwischen Schülern, Eltern, Lehrern und Schulleitung.“ Alle sind immer auf dem neuesten Stand, mehr Transparenz geht nicht.

 

Zum Schluss noch eine aktuelle Zahl vom Statistischen Bundesamt, die Sie nicht überraschen wird: 2018 lagen die Esten beim  Buchen privater Mitfahrgelegenheiten über das Internet mit großem Abstand vorne: 2018 nutzten dort 22 Prozent der Bevölkerung private Fahrdienste. Der EU-Durchschnitt lag bei 6 Prozent. Mit dem Argument, dass dort weniger Leute auf kleinerer Fläche leben, kommt man da nicht weiter. Die Esten sind einfach echte Vormacher.

 

Wer sich eingehender mit der Digitalisierung Estlands befassen möchte, besuche: e-estonia.com

 

Text: Vera Hermes

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