Von Chirurgen einmal abgesehen ist wohl kaum jemand so nah am Kunden wie ein Maßschneider. Während in zahllosen Marketingabteilungen von „maßgeschneiderten Angeboten“ allenfalls theoretisch die Rede ist, kennt der exzellente Maßkonfektionär seine Kunden zentimetergenau. Und er weiß um ihre Schwächen, ihren Stil, ihre Ansprüche.
Hamburgs Topdesigner Marc Anthony schneidert seit eineinhalb Jahrzehnten einer anspruchsvollen Klientel edle Kleidung auf den Leib. Sein Claim lautet: „Wie es Euch gefällt“. Der Shakespearesche Komödientitel ist für das 15-köpfige Marc- Anthony-Team Programm: Der Kunde bekommt, was er will – solange er es bezahlt. Grundvoraussetzung sind ein exzellenter Service und ein individuelles Produkt. Um garantiert genug Zeit für jeden einzelnen Kunden zu haben, arbeiten die Modespezialisten ausschließlich per Terminvergabe. Zuhören, Geduld und Diplomatie sind die Ingredienzien ihres Jobs. Ehefrauen sind übrigens beim Anzugkauf gern gesehen. Warum? Lesen Sie am besten selbst:
Herr Anthony, kurze Frage vorweg: Haben Sie die Wirtschaftskrise gemerkt?
Marc Anthony: Nein, unsere Kunden sind trotzdem zu uns gekommen, aber je nach Konjunktur ändert sich der Zeitpunkt, an dem sie kommen: In guten Zeiten machen unsere Kunden tagsüber Termine mit uns, in wirtschaftlich haarigen Zeiten kommen sie morgens oder abends. Ich habe hier schon Termine um 2 Uhr morgens vergeben.
Hauptsache, die Kunden kommen auf jeden Fall.
Marc Anthony: Ja, die Zahl unserer Kunden steigt ständig. Dabei sagt die Zahl allein eigentlich nichts aus, denn mancher Kunde bestellt alle drei Jahre eine Hose und andere kommen alle vier Monate und wollen drei Anzüge. Wir haben eine große Stammkundschaft, was sehr gut ist. Ich möchte nicht noch einmal von vorn anfangen – ohne diese Stammkunden.
Im Marketing ist derzeit viel davon die Rede, dass man den Kunden individuelle und hoch persönliche Angebote machen sollte, um sie zu begeistern und langfristig zu binden. Sie sind Profi in Sachen maßgeschneiderte Angebote: Welche Fähigkeiten müssen Unternehmen mitbringen, um sie bieten zu können?
Marc Anthony: Die interne Kommunikation muss wahnsinnig gut sein! Jeder muss wissen, was der andere gerade für welchen Kunden tut. Bei uns muss derjenige, der das Hemd bearbeitet, wissen, was der tut, der gerade den dazu passenden Anzug macht. Zu guter Letzt muss alles gleichzeitig fertig sein.
Auf Ihrer Website heißt es: „Aus Ihren Ideen entwickeln wir Ihre Garderobe und kultivieren so Ihren ganz persönlichen Auftritt, Ihren unverwechselbaren Stil.“ Was ist, wenn einer Ihrer Kunden mit seinen Wünschen geschmacklich total danebenliegt? Erfüllen Sie bedingungslos jeden Wunsch oder zwingen Sie Ihre Kunden auch schon mal zu ihrem Glück?
Marc Anthony: Es gibt Kunden, die sagen: „Machen Sie einfach“, und es gibt die, die genau wissen, was sie wollen. Ich bin dafür bekannt, dass ich gern eng schneidere, manche Kunden möchten aber gern weite Kleider. Die Jacketts sehen dann vielleicht aus wie ein Sack, aber der Kunde wollte eben einen Sack und findet ihn schön. Also bekommt er, was er möchte. Ich mache auch Dinge, die ich nicht schön finde. Allerdings bringe ich es nicht fertig, Stoffe zu verkaufen, die ich nicht schön finde.
„Bei uns gibt es auch karierte Maiglöckchen.“
Versuchen Sie, Ihre Kunden vom Besseren zu überzeugen?
Marc Anthony: Wenn jemand Vorstellungen hat, die nicht so gut zu ihm passen, müssen wir diplomatisch sein. Wir können dem Kunden nicht sagen: „Das sieht nicht gut aus“, sondern erklären dann eher: „Andere Kunden, die auch hellhäutig sind, haben festgestellt, dass diese Farbe nicht vorteilhaft ist.“ Was immer wieder vorkommt: Männer und Frauen sind sich bei der Ärmellänge von Jacketts nicht einig. In so einem Fall notiere ich laut sprechend: „Die Ärmellänge soll soundso lang sein.“ Dann fragt der Kunde meist noch einmal nach, und ich erkläre ihm, dass ich eine andere Ärmellänge empfehlen würde, aber selbstverständlich seine Wünsche berücksichtige. Wir folgen unserem Motto „Wie es Euch gefällt“, ich tue, was der Kunde sagt.
Auch wenn er so richtig danebenliegt?
Marc Anthony: Wir müssen herausfinden, was der Kunde mag. Unser Job ist es, die durchaus guten Ideen des Kunden, die aber vielleicht nicht so gut zu ihm passen, so aufzunehmen, dass Gutes dabei herauskommt. Wenn jemand kommt und sagt: „Das Kleid meiner Urgroßmutter ist der Traum meines Lebens, bitte schneidern Sie es nach“, dann kann ich erwidern: „Ich finde das Kleid Ihrer Urgroßmutter für Sie nicht passend.“ Wenn die Kundin es trotzdem haben will, dann mache ich, was sie will. Ich rede nicht gegen einen Kunden an. Aber die meisten Kunden möchten geführt werden – sie wollen nicht, dass wir ihnen fünf Stoffe zur Auswahl hinlegen, sondern erwarten, dass wir ihnen Orientierung bieten.
Lernen Sie auch mal von Ihren Kunden?
Marc Anthony: Ja, manchmal entstehen anhand von Kundenwünschen Dinge, die richtig gut aussehen, obwohl ich das im Vorgespräch nicht für möglich gehalten hätte.
Im Umgang mit Kunden existiert ein schmaler Grat zwischen erwünschtem individuellen Service und einem „Auf-die-Pelle-rücken“ – was Sie bei Ihren Kunden ja im wahrsten Sinne des Wortes tun. Ist Ihren Kunden so viel Nähe manchmal unangenehm?
Marc Anthony: Es gibt zum Beispiel Frauen, die nicht von einem Mann vermessen werden möchten, das machen dann meine Mitarbeiterinnen. Manche Menschen wollen grundsätzlich nicht, dass jemand etwas über ihren Körper weiß – diese Menschen kommen nicht zu uns. Andere haben keine Vorstellungskraft, sondern müssen fertig sehen, was sie kaufen – diese Menschen kommen auch nicht zu uns.
Ihre einfachsten Herrenanzüge starten bei 650 Euro, Damenanzüge bei 1.000 Euro, nach oben sind wie immer keine Grenzen gesetzt. In Managementbüchern ist derzeit viel von Mass Customization die Rede. Was meinen Sie: Kann Maßkonfektion für die Masse funktionieren?
Marc Anthony: Das kommt darauf an, wie viele Variablen ich einbaue. Die Einzelanfertigung kann so standardisiert werden, dass ich nur Stoff, Passform, Futter variiere. Der Weg von der Vollstandardisierung bis hin zum individuellen Einzelstück ist sehr weit. Wir nähen Maßkonfektion mit sehr vielen Spezialwünschen. Aber natürlich hat auch das seine Grenzen: Wir arbeiten zum Beispiel mit Knopflochmaschinen. Wenn ein Kunde handgenähte Knopflöcher haben möchte, werden diese in der Werkstatt eigens gefertigt. Wir können das machen, aber der Kunde muss diesen sehr individuellen Wunsch bezahlen. Die Fertigung eines normalen Roy-Robson-Konfektionsjacketts dauert 100 Minuten, die eines reinen Maßanzugs 40 Stunden. Dazwischen liegt eine breite Range.
Was machen Sie, wenn Sie alle Wünsche des Kunden berücksichtigt und, sagen wir, einen super Anzug gemacht haben, und beim Abholen sagt der Kunde: „Das gefällt mir nicht!“?
Marc Anthony: Das kommt eigentlich nicht vor. Wenn doch, dann müssen wir etwas basteln, damit es ihm gefällt. Der Klassiker: Ein Mann kommt allein und bestellt für das Standesamt und die kirchliche Hochzeit zwei Anzüge. Beim Abholen kommt die künftige Ehefrau mit, sieht die Anzüge und sagt: „Sind die hässlich!“ Um so etwas zu vermeiden, habe ich es gern, wenn die Frauen gleich von Anfang an dabei sind. Viele Kunden stimmen auch erst mal allen Vorschlägen von uns zu, möchten aber im Grunde etwas anderes. Unser Job ist es, zu spüren, was die Kunden wollen. Es gibt keinen festen Maßstab. Ob eine Hose zu weit oder zu eng ist, ist Geschmackssache. Deshalb ist es für uns sehr wichtig, im Vorgespräch präzise zu sein, damit das Endprodukt den Kundenwünschen entspricht. Es gibt kein Richtig und kein Falsch – für uns gibt es nur eins: dass der Kunde glücklich nach Hause geht.
Was sind für Sie die Grundpfeiler eines exzellenten Service?
Marc Anthony: Man muss sehr gut zuhören und die Erfahrungen, die man jahrelang gesammelt hat, für seine Kunden nutzbar machen. Jede Entscheidung, die der Kunde trifft, hat Konsequenzen. Deshalb ist die Vorschau auf das Ergebnis unsere Aufgabe. Diese Vorschau erleichtert vieles. Man muss die Erwartungen des Kunden klar beschreiben und erfüllen.
Und wo sind die Grenzen des Service?
Marc Anthony: Es gibt Zauderer, die nicht mit uns, sondern mit dem Leben im Allgemeinen unglücklich sind. Oft ist das Problem, dass diese Leute mir gegenüber freundlich, aber den Mitarbeitern gegenüber unanständig sind. Man muss sein Team vor den Launen solcher Leute schützen. Bei uns bekommen sie ihren Vorschuss zurück und werden freundlich aufgefordert zu gehen. Aber das kommt höchstens alle drei Jahre ein Mal vor. Grenzen sind dort, wo man sie setzt. Die Grenze ist zum Beispiel dann erreicht, wenn Leute nicht das bezahlen wollen, was sie fordern. Aber solange es sich lohnt, dafür zu arbeiten, gibt es bei uns auch karierte Maiglöckchen.
Kennen Sie dieses irre Kleid, das Veronika Ferres vor ein paar Jahren in den TV-Spots von E.ON getragen hat? Das war von Marc Anthony. Kennen Sie die Parkas mit dem Keiler-Logo? Auch von Marc Anthony. Marc Anthony ist gelernter Banker und diplomierter Volkswirt. Eigentlich sollte er Steuerberater und Wirtschaftsprüfer werden. Stattdessen hat ihn, sagt er, die „Idee vergiftet“, edle Maßkonfektion zu kreieren. Sein Erfolg beweist, dass diese Idee ganz und gar nicht giftig, sondern ausgesprochen gut war. Marc Anthony gründete sein Atelier 1996, heute beschäftigt er 15 Mitarbeiter und kann nicht über schlechte Geschäfte klagen. Der 46-Jährige engagiert sich stark für das Hospiz Hamburg Leuchtfeuer. Wer ihn in seinem Atelier auf dem ehemaligen Gaswerksgelände in Hamburg besucht, kommt nicht umhin, einen Benefiz-Teddy zu kaufen. Das geht aber auch über www.hamburg-leuchtfeuer.de. Marc Anthonys Unternehmens-Website finden Sie unter www.marcanthony.de
Text: Vera Hermes
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