
Einerseits ist das Arbeiten im Homeoffice selbstbestimmt, flexibel, frei und deshalb ganz wunderbar. Andererseits verdichten sich die Hinweise darauf, dass immer mehr Angestellte im Homeoffice deutlich zu viel arbeiten, sei es aus Angst vor dem Jobverlust, einem merkwürdigen schlechten Gewissen, weil es schlicht zu viel zu tun gibt, oder sie einfach nicht abschalten können. Müssen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber ihre Mitarbeitenden quasi vor sich selbst schützen? Wenn ja, wie soll das aussehen? Wo hört der Schutz auf und wo beginnt die Bevormundung? Kurzum:
Wie frei darf und kann Arbeiten im Homeoffice sein, Karine Rübner?
Eine Antwort von Karine Rübner, Referentin Digital Responsibility & New Work beim Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) in Berlin
„Wandel und Veränderungen sind Prozesse. Und niemand sollte die Erwartung haben, dass große Veränderungen direkt einwandfrei und fehlerlos funktionieren. Im Gegenteil: Die eigenen Erfahrungen und auch Schwierigkeiten ermöglichen uns, Veränderungen anzunehmen und auszubauen. Um es noch weiter zu treiben: Erst durch Fehler können wir wirklich nachhaltig etwas Neues lernen und verändern. Wir machen derzeit alle einen großen Lernprozess durch, was Arbeitskultur angeht.
Die Ausgangsposition in Deutschland vor Beginn der Corona-Pandemie war eine sehr stark verbreitete Präsenzkultur. Nicht selten hörte man, wie die Geschäftsführung Qualität der Arbeit in Zusammenhang mit Zeit im Büro gebracht hat. Über die Jahre haben sich so Reflexe der Kontrolle über physische Präsenz eingeprägt, die oft nicht besonders aussagekräftig waren. Was passiert, wenn diese Kontrolle über die physische Präsenz sich zu einer Kontrolle über einen kleinen grünen Punkt als Zeichen der Online-Präsenz ersetzen lässt? Eigentlich nur wenig, außer dass sie nun endlich auffällt. Psychische Risiken dürfen nicht kleingemacht werden, nur ist es besonders wichtig, den Finger auf die echten Auslöser zu legen: So ist weder die Tatsache, dass von Zuhause oder woanders gearbeitet werden kann, noch die Tatsache, dass man nun dank Digitalisierung Instrumente in der Hand hat, um freier seine Arbeit zu gestalten, das Problem, sondern die noch fehlende Kultur, um diese Flexibilität so auszuleben, dass sie jeden Einzelnen beflügelt.
Es ist auch in Ordnung, dass es Zeit braucht, diese Flexibilität gut einzusetzen. Doch nun ist genügend Zeit vergangen, damit jedes Unternehmen sich fragen kann, wie es den Mitarbeitenden in unterschiedlichen Situationen ergeht und wie gesundes und produktives Arbeiten im Team gut funktionieren kann. Dafür tragen alle im Unternehmen und in der Gesellschaft eine große Verantwortung.
Gerne möchte ich mit einem Ruf für mehr Vertrauen in Menschen und in ihre Kreativität beginnen: Denn zu neu aufkommenden Herausforderungen kommen immer auch neue Lösungen und Ideen. Dies wird auch hier der Fall sein.
Seine Mitarbeitenden zu schützen ist selbstverständlich Teil der Verantwortung, die ein Unternehmen zu tragen hat – egal zu welchen Gegebenheiten. So war die Frage der Pausen, des langen oder am Wochenende Arbeitens auch schon vor der größeren Verbreitung von Homeoffice durch die Corona-Pandemie ein wichtiges Thema. Die Digitalisierung bringt neue Möglichkeiten der flexiblen Arbeit mit sich und ermöglicht, theoretisch jede und jeden zu fast jeder Zeit und an jedem Ort zu erreichen. So kann die Arbeit an unterschiedlichen Orten und zu verschiedensten Zeiten erledigt werden – was eben die Gefahr birgt, dass die Trennung zwischen dem privaten und beruflichen Umfeld verschmilzt und man zum Beispiel nicht komplett abschaltet. Diese Situation kann Stress auslösen, ungesund werden und auch ein Grund für eine geringere Produktivität sein – insgesamt also zu großer Unzufriedenheit führen. Was heißt das nun? Alle wieder zurück an einen festen Arbeitsplatz mit einer Stechuhr? Sicherlich nicht!
Es geht vielmehr darum, dass wir uns Gedanken machen sollten und können, was uns die neu gewonnene Flexibilisierung ermöglicht und eben auch, wie wir auf die Gefahren, die diese Flexibilisierung birgt, reagieren. Wie kann in einer solchen Situation Überforderung oder Überarbeitung verhindert werden? Sicherlich gibt es eine Reihe an Tools, die bereits entwickelt und eingesetzt werden, um selbstbestimmt zu kontrollieren, dass man nur so lange arbeitet, wie man es sich vorgenommen hat. Sicherlich wird in den nächsten Monaten ein rechtlicher Rahmen diese neue Flexibilität mit einigen Regeln definieren. Doch all diese Tools und Regeln werden erst vollkommen erfolgreich eingesetzt werden können, wenn die Unternehmen sich Gedanken darüber machen, was sie antreibt, wohin sie wollen, wie die Zusammenarbeit in ihren Teams bislang gut funktionierte, für welche Projekte Begegnungen und Austausch Sinn ergeben und wann man jedem seinen Freiraum für ruhige Momente des Arbeitens ermöglichen sollte.
Wer darüber die Kontrolle haben soll? Wie bei anderen Führungsthemen geht es darum, das Team zu befähigen und das nötige Vertrauen zu transportieren, damit jede und jeder weiß, was erwartet wird und was nicht, was im Rahmen des Machbaren ist und was nicht. Vor allem sollte die Führungsebene das Gefühl transportieren, dass ein offenes Gespräch über Unmut immer möglich ist – sei es auch über Dritte – und dass Flexibilität eben auch Anpassungen auf allen Seiten bedeutet.
Des Weiteren dürfen wir nicht vergessen, dass die aktuelle Situation der Distanzierung zu jeglichen kollektiven Begegnungen nicht das ist, was die Flexibilisierung und die Möglichkeit, von einem anderen Ort als an einem festen Arbeitsplatz zu arbeiten, anstrebt. Flexibilisierung der Arbeit sollte nicht Isolation und Homeschooling bedeuten. Dass Teams auch mit physischer Distanz gut oder sogar sehr gut funktionieren, haben wir 2020 gelernt. Nun können wir uns schon bald auf ein anderes Kapitel freuen: Ein Kapitel, in dem enge Begegnungen und Versammlungen wieder möglich sein werden. Und dann gilt es, die neuen Erkenntnisse mitzunehmen: Ein Meeting muss nicht abgesagt werden, weil eine Person zugeschaltet werden muss. Reisen durch die Republik, um ein paar Eckdaten zu besprechen, sind verzichtbar. Persönliche Verpflichtungen in einem anderen Land sind kombinierbar mit mobiler Arbeit. Wenn Begegnungen und Brainstormings physisch stattfinden, bringen sie in Zukunft einen echten Mehrwert, weil man sich bewusst dafür entschieden hat, zusammenzukommen.“