Dieser Mann ist mehrfach ausgezeichnet, und wenn Sie wissen wollen, warum, und sich außerdem mal ein richtig kluges Vergnügen gönnen wollen, dann schauen Sie sich die Youtube-Videos mit Professor Peter Kruse an. Zum Beispiel seinen zwar leider nur sehr kurzen, aber geradezu genial auf den Punkt gebrachten Vortrag auf der Sitzung der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ im Deutschen Bundestag. Dort schildert er in nur drei Minuten und 33 Sekunden, warum sich Macht neu definiert und warum wir es uns nicht leisten können, uns nicht zu verändern. Was für Politiker gilt, gilt natürlich auch für Entscheider in der Wirtschaft. Was hat nun aber Macht mit Komplexität zu tun? Lesen Sie selbst.
Professor Kruse, wieso ist die Welt plötzlich so komplex?
Peter Kruse: In den vergangenen Jahrzehnten haben wir die Vernetzung in der Welt dramatisch erhöht und damit alles dafür getan, dass Wirkungen nahezu keine Reichweitenbegrenzungen mehr haben. Die Vernetzungsdichte ist geradezu explodiert. Das führt automatisch zu einer Erhöhung der Komplexität von Problemstellungen und Lösungsnotwendigkeiten. Wir sind ein bisschen wie die Zauberlehrlinge: Es ist relativ leicht, eine vernetzte Welt zu erzeugen. Aber es ist bei Weitem nicht so leicht, auch angemessen mit den Auswirkungen dieser Vernetzung umzugehen. Was auch immer Entscheider heute tun, sie lösen Reaktionen in Netzwerken aus, die hochgradig nicht linear und in ihrer Impulsweitergabe unkalkulierbar sind. Entscheider sind mit einer Situation konfrontiert, in der sich die Folgen des eigenen Handelns langfristig so gut wie nicht mehr vorhersagen lassen. Entscheider – ob in der Wirtschaft oder in der Politik – stehen vor dem Problem, dass sie auf der einen Seite die Mengen an Information kaum noch hinreichend erfassen können und es schwieriger wird, Zusammenhänge zu verstehen, während andererseits die Auswirkungen ihres Tuns durch die Vernetzung immer unüberschaubarer werden. Dieses Auseinanderdriften von Entscheidungsgrundlage und Entscheidungskonsequenzen baut enormen Druck auf. Die Entscheider geraten zunehmend in eine Komplexitätsfalle.
Sie plädieren dafür, die Strategie der Informationsverarbeitung zu ändern, um mit der zunehmenden Komplexität zurechtzukommen, und empfehlen dafür eine „frei schwebende Aufmerksamkeit“
Peter Kruse: Es geht darum, von der Ebene der Detailinformation zur Musterbildung zu kommen. Stellen Sie sich ein pointillistisches Bild vor: Wenn Sie nur die vielen Farbpunkte sehen, dann verlieren Sie sich in den Einzelheiten. Wenn Sie aber das ganze Bild unscharf oder aus der Distanz betrachten, dann sehen Sie, dass es sich beispielsweise um die Darstellung einer Landschaft handelt. Sie reduzieren die Komplexität durch Mustererkennung. Sobald Sie das Muster wahrnehmen, wird alles viel einfacher, ohne dass Reichhaltigkeit verloren geht. Bei komplizierten Systemen ist das anders: Ein kompliziertes System kann man so nicht vereinfachen. Kompliziert ist ein System dann, wenn seine Bestandteile nicht miteinander in Beziehung stehen. Komplex ist es, wenn die elementaren Einheiten einen Zusammenhang haben und miteinander interagieren. Komplexe Systeme sind musterbildend.
Wie erkennt man Muster?
Peter Kruse: Zu allererst muss man bereit sein, ein Zuviel an Information auszuhalten. In der akzeptierten Überforderung läuft unser Gehirn auf Hochtouren. Lassen wir es zu, an unsere Kapazitätsgrenzen zu gehen, dann steigt die Chance, einen Aha-Effekt zu haben. Jeder Mensch ist ein Erfahrungsexperte und besitzt die Fähigkeit, Komplexität durch intuitives Erkennen ganzheitlicher Zusammenhänge zu verringern. Das Problem ist, dass viele Menschen in überfordernden Situationen erst einmal versuchen, die Sache in den Griff zu bekommen, indem Sie alles in Teile zerlegen. Beim Anblick der Fragmente fühlen sie sich dann zwar sicherer, aber sie verlieren das große Ganze aus den Augen. Das Muster ist zerstört. Aus dem komplexen Zusammenhang ist ein kompliziertes oder ein trivial geordnetes Sammelsurium von Teilen geworden. Wenn wir nur mit analytischem Verständnis an die Dinge herangehen, laufen wir immer Gefahr, Wesentliches zu verpassen. Nehmen wir zum Beispiel den Versuch, die Psyche des Menschen über die Vielfalt neuronaler Aktivitäten im Gehirn zu erklären. Irgendwie bleibt immer der fahle Nachgeschmack, der Faszination des eigenen Erlebens nicht gerecht geworden zu sein. Es ist die Seele, die verloren geht.
Wenn der Preis der Vernetzung eine zunehmende Komplexität ist, könnte dann im Umkehrschluss die Lösung sein, sich nicht zu vernetzen, um Komplexität zu reduzieren?
Peter Kruse: Das ist mindestens genauso naiv wie der Versuch, der Komplexität durch das Zerschlagen von Zusammenhängen Herr zu werden. Die Frage ist doch vielmehr: Können Netzwerke bei der Musterbildung helfen? Sind sie Instrumente für einen erfolgreichen Umgang mit Komplexität? Ja, Netzwerke wie das Internet sind sogar eine der aussichtsreichsten Hilfen, die uns für das Erkennen komplexer Zusammenhänge zur Verfügung stehen.
„Wenn wir nur mit analytischem Verständnis an die Dinge herangehen, laufen wir immer Gefahr, Wesentliches zu verpassen.“
Prof. Dr. Peter Kruse
Mit dem Internet ist ein System entstanden, in dem kooperative Wissensbildung und kulturelle Teilhabe so leicht sind wie nie zuvor. Das Internet hat eine Revolution herbeigeführt, weil es die Architektur der Kommunikation grundlegend verändert hat. Aus dem „one to one“ oder „one to many“ früherer Tage ist ein „many to many“ geworden. So ist es einfacher, verteiltes Wissen anzuzapfen und sich unmittelbar an vielen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Wer in der Dynamik mitschwimmt, hat einen enormen Erkenntnisgewinn. Die kollektive Intelligenz, die über die Netzwerke angeregt wird, ist ein legitimer Hoffnungsträger, wenn es darum geht, sich aus der Komplexitätsfalle zu befreien. Die kulturellen Leistungen der Menschheit waren schon immer das Ergebnis der Interaktion von vielen, auch wenn wir Veränderungen gern großen Einzelpersönlichkeiten zuschreiben. Angesichts der globalen Aufgaben, vor denen wir heute stehen, ist es nicht mehr sehr sinnvoll, auf historische Figuren zu warten, die die Karre für uns aus dem Dreck ziehen. Das müssen wir wohl gemeinsam schaffen. Zusammen sind wir intelligenter als einzeln, und das Netzwerk hilft, die Weisheit von vielen zu nutzen. Die Entscheidungsfindung ist nicht mehr ausschließlich die Aufgabe Relevanz filternder Experten. Entscheider müssen nicht mehr selbst die Klügsten sein, sondern es geht für sie darum, die Intelligenz von Netzwerken zu moderieren.
Sind Digital Natives besser gerüstet, mit Komplexität umzugehen, und wenn ja: Was können wir von ihnen lernen?
Peter Kruse: Komplexität reduzierende Mustererkennung ist kein Privileg der Digital Natives. Sicher, die Jüngeren bewegen sich stressfreier und selbstverständlicher in den Netzen, weil sie damit großgeworden sind, aber den intuitiven Blick für Musterbildungen müssen sie genauso über Erfahrungswerte aufbauen wie alle anderen. Vor Gott und der Komplexität sind wir alle gleich. Es geht darum, die Dinge nicht im Griff haben zu wollen. Intelligente Netzwerke brauchen Transparenz, ungehinderte Informationsflüsse und die Bereitschaft, sich auf Entwicklungen einzulassen, die man weder bestimmen noch vorhersagen kann. Dafür ist das Internet ein guter Lehrmeister. Der Maßstab für die Fähigkeit zur Nutzung kollektiver Intelligenz ist also nicht etwa die Menge der Follower bei Twitter oder der Freunde bei Facebook, sondern die Fähigkeit, eine Haltung zu realisieren, der es wichtiger ist, Teil einer Dynamik zu sein, als sie zu beherrschen. Die Identität des Managers gerät dabei ebenso ins Wanken wie das Selbstbild von Politikern.
„Vor Gott und der Komplexität sind wir alle gleich. Es geht darum, die Dinge nicht im Griff haben zu wollen.“
Prof. Dr. Peter Kruse
Wie reagieren Entscheider in Unternehmen und Politik Ihrer Erfahrung nach darauf?
Peter Kruse: Deutlich weniger verunsichert oder abwehrend, als man angesichts der tatsächlich stattfindenden Machtverschiebung erwarten könnte. Insbesondere in der Wirtschaft wollen die Entscheider verstehen, verstehen, verstehen … Die Politik fremdelt da etwas mehr und setzt immer noch lieber auf Expertengremien als auf echte Beteiligungsprozesse. Aber das Umdenken ist in vollem Gange.
Und was empfehlen Sie?
Peter Kruse: Risikobereitschaft, Empathie und Resonanz sind zentrale Kategorien. Risikobereitschaft ermöglicht Experimente mit der Netzwerkbildung, die notwendig sind, um die persönlichen und kulturellen Wertvorstellungen den neuen Anforderungen anzupassen. Empathie fördert die Fähigkeit, Musterbildungen zu erkennen und zu nutzen. Wenn ich mich eingefühlt habe, muss ich ein Minimum an Kraft investieren, um ein Maximum an Effekt – an Resonanz – zu erzielen. Das ist wie beim Spalten eines Holzblocks: Treffe ich ihn entlang der Maserung, fällt das Holz fast von allein auseinander, arbeite ich gegen die Maserung, habe ich große Mühe. Niemand kann in Netzwerken mächtig sein, ohne Resonanz zu erzeugen. Wer heute in der Gesellschaft beispielsweise Großprojekte zur Verkehrsinfrastruktur durchsetzen will, ist gut beraten, zu prüfen, auf welches System und welche Resonanzfelder er trifft. Die Macht verschiebt sich zum Nachfrager, also zum Kunden, zum Mitarbeiter, zum Bürger. Und wenn es Entscheidern nicht gelingt, empathisch genug zu sein, um Resonanzen zu erspüren, werden sie immer mehr Gegenwind bekommen. In der vernetzten Welt können quasi aus dem Stand Massenbewegungen entstehen, die so viel Kraft entfalten, dass wir es uns schlicht und ergreifend nicht leisten können, die geänderten Regeln der Kommunikation, die mit dem Internet entstanden sind, zu ignorieren. Die Menschen werden es nicht mehr zulassen, dass man sie „fürsorglich“ entmündigt. Sie wollen sich nicht mehr führen lassen, sie wollen „mitsorgen“. Hierarchie nach Gutsherrenart wird sich nur noch in wenigen Nischen behaupten können. In einer vernetzten Welt verliert triviales Machtgefälle seine Existenzberechtigung. Der Systemwechsel lässt sich nicht mehr aufhalten. Es gilt das Motto: Und bist du nicht willig, so brauch ich Geduld.
„In einer vernetzten Welt verliert triviales Machtgefälle seine Existenzberechtigung.“
Prof. Dr. Peter Kruse
Das Interview führte Vera Hermes
Prof. Dr. Peter Kruse beschäftigt sich mit der Ordnung in unseren Köpfen, genauer: mit Ordnungsbildungsprozessen im menschlichen Gehirn. Als Wissenschaftler erforschte Peter Kruse 15 Jahre lang an mehreren deutschen Universitäten die Komplexitätsverarbeitung in intelligenten Netzwerken. Der Honorarprofessor für Allgemeine Psychologie und Organisationspsychologie an der Universität Bremen gründete im Jahr 2001 das Unternehmen nextpractice in Bremen, das sich auf Kulturwandel, Trend- und Zukunftsforschung fokussiert. Peter Kruse und sein Team aus rund 40 Psychologen und Informatikern nutzen Erkenntnisse aus der Hirnforschung und aus der Theorie dynamischer Systeme, um beispielsweise Managementwerkzeuge zum Erzeugen von kollektiver Intelligenz zu bauen. Unter anderem haben sie ein computergestütztes Verfahren entwickelt, das kulturelle Veränderungsprozesse und komplexe Muster sichtbar, verstehbar und damit veränderbar macht – und letztlich Entscheidern dabei hilft, mit Komplexität und Vernetzung umzugehen. Peter Kruse ist für renommierte Industriekunden und Management-Institute tätig und arbeitet überdies gemeinsam mit Organisationen wie der Global Marshall Plan Initiative, der Bertelsmann Stiftung oder dem Ökosozialen Forum Europa an neuen Ansätzen der Partizipation in politischen Entscheidungsprozessen. www.nextpractice.de
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