Die letzten Wochen des Jahres 2012 waren für alle Medieninteressierten ein informatives Festmahl, was das Thema Zukunftschancen von Verlagen und Zeitungen angeht. Das Ende der Financial Times Deutschland und der Frankfurter Rundschau veranlasste viele kluge Köpfe, die augenscheinliche Misere der Zeitungen zu analysieren. Unisono lautet das Credo: Die Zukunft liegt in der Digitalisierung. Warum werden Medienexperten und Beratungen (Ribbon & Partner eingeschlossen) nicht müde, immer wieder ähnlich klingende Thesen und Appelle zu senden?
Die Antwort ist einfach: Zwischen dem, was angeblich alle wissen, und dem, was der eine oder andere Verlag tatsächlich umsetzt, klafft eine deutliche Lücke. Theoretisch ist auch Klavierspielen nicht schwierig: Es gibt die weißen und die schwarzen Tasten und auf die drückt man … doch bis daraus eine konzertreife Leistung wird, dauert es Jahre. Jahre des Übens. Und dabei ist Klavierspielen noch einfacher, denn es gibt einen Grundkonsens, was ein gutes Klavierspiel ausmacht. Das sieht im Digitalgeschäft für Verlage anders aus. Hier gibt es kein Patentrezept fürs Geldverdienen.
Aus der Forschung wissen wir, dass aus dem, was wir wissen (Studien & Strategien zur Digitalisierung), nur durchs Machen letztendlich Können wird. Und erst im Stadium des Könnens ist an Geldverdienen zu denken. Meine Großmutter sagte früher immer: „Erst wenn aus Müssen Wollen wird, wird daraus Können.“ Und wie sieht es aus bei den Verlagen mit dem Wollen im Hinblick auf ihre digitalen Angebote?
Verlegerische Visionen brauchen ein Update
Mit Vision meine ich nicht einen wohlklingenden Satz auf einem Powerpoint-Chart, der einmal bei der Weihnachtsfeier gezeigt und danach vergessen wird. Sondern eine kraftvolle Vision, die den Führungskräften und Mitarbeitern gleichermaßen die Frage beantwortet, wohin das Unternehmen denn überhaupt will. Wozu man sich anstrengt. Eines der besten Beispiele bleibt JFKs Vision vom Mann auf dem Mond.
„I believe that this nation should commit itself to achieving the goal, before this decade is out, of landing a man on the moon and returning him safely to the earth.“
Diese Vision hatte Kraft. Dahinter steckten jede Menge Ideologie und Ziele, zum Beispiel der Welt die technische Überlegenheit der USA zu demonstrieren. Doch die Botschaft als solche war einfach, klar, richtungweisend und ambitioniert. Und hat keine einzige Frage zum Wie beantwortet. Die Vision eines Verlages braucht auch allein deshalb ein Up- date, weil die Profession des Verlegens durch die Digitalisierung infrage gestellt wird. Wenn jeder Werbetreibende, ja jeder, der etwas sagen möchte, im Internet direkt seine Zielgruppe adressieren kann, ohne den medialen Umweg zu gehen, hat das Auswirkungen für Verlage.
So fließen laut einer aktuellen Studie des European Institute for Corporate Publishing (EICP) immer mehr Marketinggelder in unternehmenseigene Corporate Publishing-Angebote wie Unternehmenswebsites oder Facebook-Auftritte einer Marke oder eines Unternehmens. Anzeigenumsätze und Verkaufserlöse schwinden kontinuierlich. Der Springer-Verlag bekennt freimütig, dass der Großteil der digitalen Umsätze mit nicht-journalistischen Produkten erzielt wird. Auch der Verlag Burda hält Beteiligungen an E-Commerce-Portalen wie etwa edelight, etsy oder dem Netzwerk Xing.
Offensichtlich fand eine Erweiterung der Ursprungsvision dieser ehedem ganz klar journalistisch ausgerichteten Verlagshäuser statt. In Gesprächen begegnet mir immer wieder die Haltung: „Wir müssen zwar neue digitale Geschäftsfelder betreten, aber Tierfutterversender sind wir auf keinen Fall.“ Hier stellt sich die Frage: „Aber was dann?“ Die Unternehmensspitze muss sich nicht nur die Frage gefallen lassen, wie Tierfutterversand und Nachrichtenredaktion zusammenpassen, sie sollte sie auch beantworten. Dazu gehört den Mut zu haben, sich bewusst zu der veränderten Unternehmensausrichtung zu bekennen, die ursprüngliche Vision – oft von Generation zu Generation übertragen – zu überdenken und den aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Und dies laut und deutlich auszusprechen, damit die Mitarbeiter auch wissen, in welche Richtung sie ihre Energien lenken sollen.
Wenn Journalismus nur noch eines von mehreren Geschäftsfeldern ist, be- deutet das für die interne Organisation nachhaltige Veränderungen – die aber erst dann angegangen werden können, wenn diese Aussage klar getroffen ist.
Werbegelder folgen den Zielgruppen
Mit dem Begriff „Kunden“ werden in vielen Verlagen nur die Werbetreibenden und Mediaagenturen bezeichnet. Dieses Wort wird fast nie für Leser, Nutzer, User benutzt – bezeichnenderweise. Als Ursache der Verlagsmisere wird daher oft die Ursachenkette genannt: weniger Anzeigenerlöse, Sparkurs in den Redaktionen, schlechteres Produkt, weniger Leser, weniger Reichweite, also weniger Anzeigenerlöse usw. Insgesamt steigen die Werbeausgaben der werbetreibenden Industrie aber. Während laut aktueller Prognose die Umsätze im TV stabil bleiben und das Internet stark an Umsätzen dazugewinnt, verlieren Zeitungen und Zeitschriften deutlich. Man kann Werbekunden nicht vorwerfen, dass sie ihr Budget dorthin umleiten, wo sich ihre Zielgruppen aufhalten.
Spiegel Online startete vielleicht anfangs auch als ein „Muss“, die Macher wollten dann aber auch gut sein und jetzt sind sie richtig gut, ganz im Sinne meiner Großmutter. So wurde aus der Marke „Spiegel“ auch eine reichenweitenstarke und für Werbetreibende attraktive Plattform. In Bezug auf die Zielgruppe Werbetreibende sind die Medien im Beziehungsgeschäft, das heißt sie stellen eine Beziehung zwischen dem werbetreibenden Unternehmen beziehungsweise dessen Botschaft und der vom Werbetreibenden anvisierten Zielgruppe her. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass diese Zielgruppe auch erreicht wird: sowohl inhaltlich als auch mit dem passenden Distributionskanal, egal ob auf Papier oder digital.
Der Medienkonsum der jungen Zielgruppen ist nunmal stark digital geprägt. Daher lässt sich die Ursachenkette auch umdrehen: Relevanzverlust in der Zielgruppe, weniger Reichweite, weniger Anzeigenerlöse, Sparkurs in der Redaktion, noch weniger Relevanz usw. Verschärft wird das Dilemma noch, wenn Anzeigenverkäufer, die kompetent jedes Detail des Print-Geschäfts erklären können, wenig überzeugend auch Banner-Plätze auf der Website mit verkaufen müssen, dies nicht wirklich wollen und daher auch nicht können.
Die Zielgruppe definiert, was relevant ist
Bei Facebook kann jeder einzelne Nutzer individuell auswählen, was er gerne in seinem Newsstream sehen möchte (abgesehen von den werblichen Botschaften). Da gehen die privaten Nachrichten und Empfehlungen der engen Freunde Hand in Hand mit den Botschaften einer Organisation oder Produktmarke, die gefällt.
Und in dem Topf „Organisationen/Produktmarken“ sind auch die vom Nutzer bevorzugten Medienmarken. Alle Absender sind für ihn potenziell relevant, ansonsten hätte er sich nicht mit ihnen befreundet. Und das gilt auch außerhalb von Facebook. Da digital alles schnell erreichbar und meistens sofort verfügbar ist, ist es sehr einfach, eine ganz persönliche Mischung von relevanten Blogs, Sites, Journalisten zusammenzustellen, die das tägliche oder wöchentliche Informationsbedürfnis befriedigen. Das Alles-aus-einer-Hand-Modell eines Print- Produkts ist digital nicht notwendig und auch nicht gewünscht. Im Gegenteil: Die Vielfalt an Meinungen bringt einen zusätzlichen Mehrwert. Diese Erwartungen an Vielfalt und an individuelle Verfügbarkeit übertragen die jungen Zielgruppen auf alle anderen Medien. Ein Abo einer einzelnen Zeitung erscheint unattraktiv, da man viel bezahlt für eine Komposition, die einen in dieser Form gar nicht interessiert. Hier heißt die Devise also, die Zwangskompositionen zu öffnen und dem User einzelne Elemente, wie etwa Artikel oder den Zugriff auf Datenbanken, zu bieten, die er selbst zu seinem Informations- oder Unterhaltungsportfolio zusammenstellen kann.
Mit dem sich ändernden Kommunikationsverhalten klaffen die Lebenswelten der Generationen immer weiter auseinander. In ihrem Werte-Index 2012 stellen Peter Wippermann und Maria Angerer das Wertesystem der Baby Boomer-Generation, die in vielen Redaktionen noch das Sagen hat, dem der Millennials gegenüber: Es ist nicht sonderlich gewagt zu behaupten, dass der journalistische Inhalt eines Artikels stark von dem Journalisten abhängt, der diesen verfasst. Wenn im Wertesystem des Journalisten „Radikalismus“ stark ausgeprägt ist, wird er vermutlich über die Nähe von Wirtschaft und Medien rigoroser urteilen und schreiben, als eine 20 Jahre jüngere Kollegin, die eher den Wert „Pragmatismus“ vertritt.
Mein Kollege kommentierte die Einstellung der Frankfurter Rundschau mit den Worten: „Ich habe die linke Schreibe von satten Alt-68ern gelegentlich gerne gelesen, es war immer ein bisschen grotesk.“ Er meinte es nicht ironisch. Es gibt in meinem Bekanntenkreis nicht wenige regelmäßige Stern-Leser, die fest behaupten, dass sie genau feststellen können, wer der beiden Stern-Chefredakteure für das vor ihnen liegende Heft verantwortlich war.
Was heißt das jetzt für die Zielgruppenrelevanz?
Je heterogener die Zielgruppe, desto heterogener sollte auch ein Redaktionsteam sein, um die Zielgruppe so gut wie möglich widerzuspiegeln, gerade was das „Wie“ der Kommunikation angeht. Es ist die eine Sache, darüber zu lesen, wie die jüngere Generation tickt, es ist eine ganz andere Sache, Teil dieser Welt zu sein. 96 Prozent der 14- bis 29-Jährigen sind Mitglied in mindestens einem Sozialen Netzwerk. Die Relevanz dieser Art von Kommunikation ist nicht mehr wegzudiskutieren. Und sie verändert die Erwartungen dieser jungen Kunden an mediale Kommunikation. Der belehrende Ton vieler Medien wirkt antiquiert, es geht um Augenhöhe, um Einbeziehung der Leser und User. Aber das ist nicht nur ein Kommentar-Button, das ist eine Haltung der Journalisten gegenüber diesen Kunden. Da ist tägliche Reibung im eigenen Redaktionsteam zu diesem Punkt ausgesprochen hilfreich. Und eine Art und Weise, die Zielgruppe nicht nur über Marktforschung zu „untersuchen“, sondern sie in die tägliche Arbeit zu integrieren. Das ist unbequem, aber ungleich spannender und erfolgversprechender.
Das Zitat des Tages in meiner regionalen Tageszeitung stammt heute von Ludwig van Beethoven: „Man muss dem Schicksal in den Rachen greifen.“ Genau darum geht’s! Und damit kennen sich Verlage eigentlich sehr gut aus!
von Simone Brecht
Simone Brecht gründete 2007 gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner die Unternehmensberatung Ribbon und Partner in Hamburg. Sie greift auf über zehn Jahre Führungs- und Managementerfahrung in der Kommunikations- und Medienbranche zurück. Eine Branche, deren digitale Entwicklung sie heute intensiv begleitet. Die Schwerpunkte von Ribbon und Partner sind Visions- und Strategiearbeit und die daraus resultierende Begleitung von Veränderungsprozessen in Organisationen. www.ribbon-und-partner.de
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